Genie, Geschmack, Kritik.
215
halten und endgültiges Stehenbleiben, sondern ein dauerndes
Sichbewegen, ein unablässiges Wiedergeborenwerden zu neuem
Leben in dem Geiste, in dem und durch den es lebt.
Aber das Recht zum Übersetzen hat auch zuverlässigere Grund¬
lagen als die, die man aus dieser seiner Universalität ableitet, auf
Grund deren das Übersetzen unvermeidlich ist. Das Übersetzen
ist einerseits Änderung und Hervorbringung eines Verschiedenen;
aber andererseits ist es, um den Kreis zu schließen, Rückkehr vom
Verschiedenen zum Identischen. Und die Übersetzung, will sie
absolut zuverlässig sein, kommt nicht post festum zu der vollen¬
deten Ausdrucksgebung hinzu, wenn der Dichter seinen ganzen
Sang vorgetragen hat, wenn er schweigt und stirbt und sein Gesang
irgendwo anders hinverpflanzt ist, sondern sie entsteht und ent¬
faltet sich in der Verwirklichung des primitiven Ausdrucks selbst,
mit dem der Dichter bei der Entfaltung seines Gegenstandes, bei
der fortschreitenden Behandlung seines Grundmotivs vorangeht.
Dante verweilt nicht bei der ersten Terzine noch beim ersten Ge¬
sang noch beim ersten der drei Teile seiner Dichtung. Zahlreich
sind die Etappen, und jede wird überwunden, denn der Dichter
schreitet voran, und bei diesem Prozeß, bei jedem seiner Punkte,
hat alles, was schon ausgedrückt worden ist, unvollendet wie es
ist, das Bedürfnis, vollendet zu werden, und daher entwickelt es
sich. Und in der Entwicklung wird es umgestaltet, ergänzt, erhält
ein verändertes Aussehen: jedes schon verkündete Wort beseelt
sich mit neuem Leben, enthüllt eine tiefere Bedeutung. Es ist
nicht mehr, was es war, es ist ein neues Wort. Es ist in eine andere
Sprache übersetzt worden.
Wer nicht dieses erste Sich-selbst-übersetzen der Dichtung und
jedes Kunstwerks im Prozeß ihrer eigenen Schöpfung sieht, wird
sich nie von dem geistigen Charakter der künstlerischen Schöp¬
fung Rechenschaft ablegen. Und wer sieht, wie jede Übersetzung
von diesem ursprünglichen Sich-selbst-übersetzen abgeleitet wird,
kann gegen die Übersetzung auf Grund dessen, was sie ist, nicht
mehr den Verdacht haben, sie sei eine Preisgabe oder eine Herab¬
setzung des Kunstwerks oder die Ersetzung eines Werkes durch
das andere. Ohne diese jedem Kunstwerk und jedem ihm ver¬
wandten Werk immanente Übersetzung gibt es kein gegenwärtiges
und lebendiges Kunstwerk, das Ganze geht in der leeren Behaup¬
tung eines unausdrücklichen Gefühls unter (ein logischer Unsinn
wie jede These ohne Antithese und ohne Synthese). Weit ent¬
fernt davon einzubüßen, gewinnt das Kunstwerk beim Übersetzen,