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Die Attribute der Kunst.
Und so gibt es nichts echt Menschliches, das die Macht des
Genies nicht fühlte oder fühlen ließe. Immer aber ist es das Genie,
das eröffnet und schafft und den Sinn des Neuen und des Jugend¬
lichen, mit einem Wort des beginnenden Lehens verleiht: das
dichterische Genie.
2.
Das Genie ist nicht Gedanke.
Das Genie ist nicht Gedanke, es ist nicht Kunst im antiken
Sinne des Begriffs, in dem man die Kunst der Natur entgegen¬
setzt (natura an arte?): es ist nicht Wissen noch Wissenschaft
noch Philosophie. Noch weniger ist es Offenbarung, die in die
Seele ein übermenschliches Wissen pflanzt und den Menschen wie
ein Instrument sprechen läßt, so daß seine Subjektivität beseitigt
würde, um vor ihn und seine Augen eine absolut objektive Wirk¬
lichkeit hinzustellen. Das Genie zeichnet besonders die begabtere,
das heißt die energischere und tätigere Individualität aus, die sich
daher besser zur Geltung zu bringen weiß. Es ist so individuell,
daß man es nicht übertragen und nicht lehren kann: deshalb zieht
es die Bliche aller an und erweckt die Bewunderung der Menge,
die in der Genialität eine einzigartige, nicht mitteilhare Sonder¬
stellung der höheren Geister erblickt. Man verwechselt es mit den
natürlichen Gaben, und in der Tat ist es natürlich, wenn man den
Begriff „Natur“ im Sinne der von uns empfohlenen Hinweise
versteht. Tatsächlich nimmt es an jener relativen Unmittelbarkeit
teil, wie sie zum Gefühl gehört, in dem Leben und eigentliche
Wirklichkeit der Natur liegen. Es ist selbst die Subjektivität des
Subjekts, die nichts verlieren und nichts gewinnen, der man nichts
entziehen und nichts hinzufügen kann: daher war trotz der innigen
und untrennbaren Verbundenheit des Gefühls mit der Überlegung
in der Synthese des Selbst-Bewußtseins nie große Mühe notwendig,
um die Bekundung der Genialität zu ermöglichen, noch konnte sie
je mittels Schulen und Regeln erworben werden. Hervorragende
Literaten können uns kalt und abwesend lassen, und das rohe
Dichten eines ungepflegten Geistes kann mit seiner spontanen
Kraft unmittelbar unser Herz treffen und in ihm einen Aufruhr
von Leidenschaften erwecken. Und auch in der Philosophie oder
in der Wissenschaft gilt immer die geniale Eingebung und der
glückliche Angriff des Subjekts auf die Wirklichkeit mehr als die