Full text: Philosophie der Kunst

Genie, Geschmack, Kritik. 
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Masse —, sich als eine harte, rauhe, schwierige Mühe darstellt: 
die Mühe des Denkens. Und zwar nicht beliebigen Denkens, son¬ 
dern eines bestimmten Denkens, das durch zahlreiche Gedanken 
seine Abgrenzung erfahren hat, und dieser Gedanke ist noch ein¬ 
mal zu denken von dem, der am Gedanken des Denkers, an dem 
Willen, der in dem Plan des Mannes der Tat liegt, teilhaben will. Die 
Welt des Denkers und die Welt des Menschen der Tat ist ein Gebäude. 
Die Welt des Dichters hingegen ist die Seele selbst als Prinzip des 
Gebäudes: jenes Fühlen, das in jedem Menschen das gleiche Fühlen 
ist, im Glanz des Königsthrones und im Elend der armseligen 
Hütte, in der Seele des gelehrten Theologen wie im Herzen des 
frommen Weibleins, in der Zusammenkunft der Gelehrten wie in 
der Umarmung der Liebenden, in der Freude wie im Schmerz. 
Und es ist unerheblich, daß man, will man diese Seele und 
dieses menschliche Urfiihlen wiedererkennen, auch Bücher lesen 
und sie verstehen muß, daß man sie, um sie zu verstehen, 
studieren und Bildung und Aufmerksamkeit darauf verwenden, 
mit einem Wort, daß man sich von Anfang an der Mühe des Ge¬ 
dankens unterziehen muß; es ist unerheblich, wenn man aus Mangel 
künstlerischer Bildung einen Tizian mit einem Öldruck verwechselt 
und aus Mangel an literarischer Bildung den Kopf im Theater ver¬ 
liert, ohne in den Gedanken des Dramas einzudringen. Aber die 
Bildung, der Gedanke und die Mühe, können etwas Großes sein, 
wie sie eine beliebige Quantität sein können, die man vernach¬ 
lässigen darf. Und hat man sich der Mühe unterzogen, so gleicht 
sie einer großen Ausgabe, die man bereits gemacht hat; die An¬ 
strengung ist vollbracht, und man denkt nicht mehr daran; denn die 
Kunst liegt nicht im Gedanken, sondern in jenem Punkt der Seele, 
in dem das Gefühl in seiner Einfachheit wieder zu schwingen be¬ 
ginnt. Die Großen werden wie die Kleinen, die Gelehrten 
freuen sich mit den Unwissenden, alle finden sich als Menschen 
eines einzigen Fühlens wieder: sie und die Natur — das ist alles. 
Ist die Dichtung nicht das Attribut der idealen Kindlichkeit des 
Geistes? Fort also mit Bildung und Büchern, fort mit der müh¬ 
samen Technik und der Überlegung, die die Stirn mit Falten 
bedeckt und das Haar erbleichen läßt. Fort mit der Mühe! Die 
Kunst führt uns zu den frischen und reinen Wassern des Quells 
zurück, aus dem ewig das Leben strömt. 
Audi der Denker und der Mann der Tat werden geehrt und 
gepriesen. Aber ihr Lidit strahlt aus der immanenten Poesie, 
die jeden Gedanken und so jede Tat, die alles Menschliche beseelt.
	        
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