Die Kunst, die Künste und die schöne Natur.
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Im Gedanken wird das Gefühl sieh bewußt; es wird Ich, das
Schönheit ist, aber auch Gedanke, der das Schöne analysiert, es
erkennt und theoretisch betrachtet, um so in seiner absoluten
Realität das Sein aufzunehmen und zu erfüllen. Aber die Natur
ist nur Gefühl, diesseits des Gedankens. Als reines Gefühl ist
sie un-wirklich; ihre Wirklichkeit liegt im Gedanken, im Ich; aber
in ihrer Un-wirklichkeit, als Gefühl, weit entfernt davon, der
Schönheit zu entbehren, ist sie die Schönheit selbst; denn sie ist
die Natur des Geistes, bewegt und erschüttert von der Dialektik
des Geistes, als jenes Gefühl in nuce, das jeder von uns in sich
seihst findet (natürlich wird er es nur unter der Bedingung finden,
daß er wach ist und nicht schläft, daß er, mit einem Wort, so gut
er kann, Gedanke ist).
Sicher: solange man unter dem Gedanken ein, ich weiß nicht
welches Spiel des Gehirns oder einer in das Gehirn eingeschlossenen
oder überhaupt in bestimmte Grenzen verbannten und daher ab¬
gesonderten Seele versteht, ist es nicht leicht zu erfassen, wie der
Gedanke in seine Synthese die ganze Natur aufnehmen und schwin¬
gen lassen kann. Aber dieser elende Seelenbegriff ist für uns
schon durch den Begriff des Gefühls selbst ausgeschlossen, das in
seiner Einheit unendlich ist und sich daher in einem unendlichen
Gedanken äußert; es wird nie ein Ergebnis sein, weil es zu seinem
Wesen gehört, ein Prozeß zu sein. Die Unendlichkeit der Natur
ist die gleiche Unendlichkeit des Gefühls, die sich in der Unend¬
lichkeit des Gedankens verwirklicht. Deshalb ist die wirkliche Un¬
endlichkeit der Natur nicht die, die wir uns in Übereinstimmung
mit der Denkart des Naturalisten als bereits gegeben vorstellen,
sondern sie ist die, die sich mittels der Entfaltung des Gedankens
verwirklicht.
10.
Die schöne Natur.
Die schöne Natur ist zwar die unendliche Natur: doch nicht
diese oder jene, in ihrer besonderen Bestimmtheit, wie jene
Pflanze, jenes Tier, jener See, jener Berg. Die besondere Natur
in ihrer unmittelbaren Besonderheit ist die Natur des Natura¬
listen, die abstrakte Natur.
Ein anatomisches Stück in seiner Gegenständlichkeit ist künst¬
lerisch nicht darstellbar; es ist nicht die Entfaltung eines Gefühls
und kann es nicht sein; zu dieser kann man umgekehrt durch die
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