Dialektik der Form.
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Leidenschaften beurteilt und bewertet man, weil der Mensch von
ihnen nicht beherrscht wird, sondern sich von ihnen beherrschen läßt.
Der eine wird mit einem Löwenherzen, der andere mit dem Herzen
eines Hasen geboren, und Don Abbondio10) bestreitet, daß jemand
den Mut, den er selbst nicht hat, sich selbst nun verschaffen
könnte; aber Don Abbondio ist Don Abbondio, und mag man auch
versucht sein, ihm in einer solchen gutartigen Sancho Pansa-Philo-
Sophie zuzustimmen — wer ein moralisches Empfinden besitzt, hält
hingegen zum Kardinal Federigo. Jeder erinnert sich an die
Feueraugen des Bruders Christoforus, die gezähmt wurden durch
die Reue über die begangene Gewalttat, durch den festen Vor¬
satz einer sittlichen Erneuerung, durch die Disziplin, der
der neue Mensch sein eigenes Naturell unterworfen hatte.
So gering der Einfluß der Erziehung, des Studiums, des Nach¬
denkens ist, so gewiß wirkt der bewußte und vernünftig über¬
legende Gedanke auf das Temperament und auf die Leidenschaften
ein, die ihm entspringen; vielleicht wirkt er sogar mit unfrucht¬
baren Ermahnungen, mit einem nutzlosen und unklaren Wollen,
ein neues Leben zu beginnen, ein, so daß man den Vorsatz der
Änderung von heute auf morgen aufschiebt; aber es ist etwas da,
was im Gewissen des Menschen mit der Natur zusammengeht und
aus ihr etwas gestaltet, was nicht mehr Natur ist, weil es bewußt
ist, nicht abstrakt an sich betrachtet, wie ein Schauspiel, dessen
Betrachtung an das Gewissen des Menschen rührt, sondern in seinem
unteilbaren Sein selbst betrachtet, das zugleich Natur, zugleich aber
auch Bewußtsein von sich und Urteil über sich ist.
Und in der Kunst? Die romantischen Lehren, die die Reinheit
und Echtheit der Volksdichtung rühmen und verlangen, die ge¬
pflegte Kunst solle sich ihrer als Modell bedienen, die das Herz und
die Leidenschaft höher als jedes Nachdenken und jede Poetik
stellen, sind selbst Lehren, die auf die Kunst einwirken wollen
und tatsächlich einwirken. So ist die Natur des Vorromantikers
Rousseau eine nicht so echte und unmittelbare Natur, daß sie
nicht der ganzen Polemik und Philosophie des Genfers bedürfte,
um die Geltung zu erlangen, die ihr zu verleihen in seiner Absicht
liegt. Und ist nicht auch die ganze Polemik der „Scapigliati“
und der Anti-Aristoteliker des 16. Jahrhunderts (wie Aretino und
Giordano Bruno) gegen die dichterischen Regeln und für die abso¬
lute Freiheit des Genius und der individuellen Neigung auch eine
Tendenz und eine philosophische wohlüberlegte Lehre?
10) Gestalt aus Manzonis „Promessi sposi“. (Der Übersetzer.)