Das Dasein der Kunst.
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Sache eine Haltung oder ein geistiges Moment auf, das in dieser
Periode, Richtung oder während dieses geschichtlichen Geschehens
besonders betont worden war, das aber als Haltung oder geisti¬
ges Moment jeder geschichtlichen Produktion immanent und daher
gegenwärtig ist. Wenn daher eine nachahmende und sthulmäßige
Dichtung ohne jeden ästhetischen und daher künstlerischen Wert
möglich ist, in der die klassischen Vorschriften in vollständiger Un¬
kenntnis der romantischen Motive angewandt werden, wenn nicht
überzeugende und zügellose Herzens- und Gefühlsergüsse möglich
sind, die nichts besagen, indem sie alles, was man fühlt, sagen
wollen und die die Worte laufen lassen, wie sie kommen, ohne
Rücksicht auf irgendwelche Regeln, so kann nur eine einzige Dich¬
tung die Aufmerksamkeit fesseln und uns erschüttern: die nämlich,
die romantisch und klassisch zugleich ist. Das Größenverhältnis
dieser beiden verschiedenen Elemente mag verschieden sein, aber
keines von ihnen darf fehlen. Eine rein klassische Kunst wäre kalt,
leer, ein Schatten ohne Körper. Eine rein romantische Kunst wäre
ein formloser Körper ohne irgendeine Linie. Beides ist sinnlos.
Man muß zugeben, daß diese Kunst ganz Naivität und relative Un¬
bewußtheit, ideale Konstruktion von uns, aber nichts Wirkliches
und Existierendes ist. Man kann sagen, daß die Kunst Traum ist,
aber nur bis zu einem bestimmten Punkte. Um ganz Traum zu
sein, müßte sie immer unkundig ihrer selbst sein, ihrer ursprüng¬
lichen Leidenschaft preisgegeben, die platonisch dichterischer Furor
des Geistes genannt wurde; dieser, von seiner Eingebung gelenkt,
ist nicht mehr Herr seiner selbst und hat daher auch nicht jenes
unterscheidende und ordnende Bewußtsein, das nicht Kunst ist,
sondern Kritik und Überlegung, die an bekannten und von Ge¬
danken anerkannten Begriffen, Regeln und Gesetzen orientiert sind.
Im Traum kommt es wirklich vor, daß man spricht, ohne sich zu
überwachen, ohne die Worte, die man braucht, zu wägen und zu
kontrollieren. Erwacht man, so kann man nicht einmal gedanklich
ein Wort aussprechen, das man nicht im Akt des Aussprechens selbst
prüfte, wöge und kontrollierte, und das man verbesserte, wenn es
uns nicht von der ersten Eingebung zugeflüstert und als besonders
ausdrucksvoll zur Verfügung gestellt wurde. Es ist leicht, die
Grammatik romantisch zu verhöhnen, und sie den Wichtigtuern ins
Gesicht zu werfen, die sich damit gegen einen C e 11 i n i bewaffnen.
Tatsache aber ist, daß es jenseits der geschriebenen und in ihre
wackeren empirischen Regeln geordneten Grammatik eine gewisse
nicht geschriebene Grammatik gibt, wie die berühmten ungeschrie¬