Full text: Hans Driesch

Geschehen als qualitatives Innen haben, als Begleiterscheinung „er¬ 
leben“, wieso sind dann solche physikochemischen Prozesse durch ihre 
„andere Seite“ nicht erschöpft, sondern haben auch noch eine wie¬ 
derum ganz „andere“ Seite für uns? 
Man könnte sagen, wir haben unsere Beispiele zumeist aus der 
Gedankensphäre genommen. Nun, das würde reichen; denn im Ernst 
kann doch niemand glauben, daß es physikochemische Gesetje, daß 
es Gesetze raumzeitlicher Ordnung von Elementen seien, die als 
Begleiterscheinung etwa die Entdeckung oder auch nur das Ver¬ 
ständnis des wohlbekannten euklidischen Satzes hätten: Ich möchte 
wissen, ob es eine größte Primzahl gibt. Ich bilde das Produkt der 
Primzahlen 12-3-5-7... p, wo p die größte mir bis jetjt be¬ 
kannte Primzahl ist, und addiere 1 dazu. Dann ist die entstandene 
Zahl sicher nicht durch eine Primzahl teilbar, die gleich oder kleiner 
als p ist, denn es bleibt ja jedesmal 1 als Rest. „Also“ muß die neu ent¬ 
standene Zahl selbst oder mindestens eine zwischen ihr und p liegende 
Zahl die nächst größere Primzahl sein; also gibt es zu jeder Prim¬ 
zahl, die ich schon kenne, eine noch größere, also komme ich nie an 
ein Ende, es gibt unendlich viele Primzahlen. Ja, schon noch ein¬ 
fachere Schlüsse würden den Parallelismus gedanklicher Abläufe 
mit physikochemischen absurd erscheinen lassen. Aber wir hätten 
ebenso gut als Gedankeninhalte und Gedankenfolgen ja auch den 
Motivationszusammenhang, insbesondere Werterlebnisse in den Vor¬ 
dergrund stellen können. Und wir hätten auch das Gefühlsleben 
heranziehen können, auf das der Parallelismus in einer besonderen 
Form sich gerne beruft. Der Schmerz ist der Schmerzensschrei, sagt 
W. Sombart und sagte W. James. Nein, der Schmerzensschrei ist der 
Ausdruck des Schmerzes, schon eines physischen Schmerzes. Der 
Zahnschmerz und der Schmerz beim Zahnziehen ohne Betäubung 
sind nicht wesensverschieden, ob der Patient schreit, stöhnt oder 
unhörbar bleibt, gleichviel ob er dabei schreien möchte oder dem 
Schmerz weder akustisch noch sichtbar „Ausdruck“ gibt. Und erst 
recht ist der seelische Schmerz nicht identisch mit dem Ausdruck. 
Es sei keineswegs bestritten, daß der Schmerz durch den Ausdruck 
rückbeeinflußt, vielleicht erleichtert werden kann (Weinen), wenig¬ 
stens durch einen geeigneten Ausdruck, daß er zum Ausdruck drängt 
und mit dem Ausdruck sich modifiziert, aber diese Tatsache als Iden¬ 
tität zu erklären, ist eine verwirrende Übertreibung und falsch. 
Und umgekehrt ist der Ausdruck nicht der Schmerz, er kann viel¬ 
mehr auch Gebärde sein11. 
Also Physisches als Ausdruck und Psychisches als Inhalt sind nicht 
identisch noch eindeutig parallel, sondern verhalten sich wie Ursache 
11 Vgl. G. Woiß, Das Lebensproblem, S. 315. 
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