Geschehen als qualitatives Innen haben, als Begleiterscheinung „er¬
leben“, wieso sind dann solche physikochemischen Prozesse durch ihre
„andere Seite“ nicht erschöpft, sondern haben auch noch eine wie¬
derum ganz „andere“ Seite für uns?
Man könnte sagen, wir haben unsere Beispiele zumeist aus der
Gedankensphäre genommen. Nun, das würde reichen; denn im Ernst
kann doch niemand glauben, daß es physikochemische Gesetje, daß
es Gesetze raumzeitlicher Ordnung von Elementen seien, die als
Begleiterscheinung etwa die Entdeckung oder auch nur das Ver¬
ständnis des wohlbekannten euklidischen Satzes hätten: Ich möchte
wissen, ob es eine größte Primzahl gibt. Ich bilde das Produkt der
Primzahlen 12-3-5-7... p, wo p die größte mir bis jetjt be¬
kannte Primzahl ist, und addiere 1 dazu. Dann ist die entstandene
Zahl sicher nicht durch eine Primzahl teilbar, die gleich oder kleiner
als p ist, denn es bleibt ja jedesmal 1 als Rest. „Also“ muß die neu ent¬
standene Zahl selbst oder mindestens eine zwischen ihr und p liegende
Zahl die nächst größere Primzahl sein; also gibt es zu jeder Prim¬
zahl, die ich schon kenne, eine noch größere, also komme ich nie an
ein Ende, es gibt unendlich viele Primzahlen. Ja, schon noch ein¬
fachere Schlüsse würden den Parallelismus gedanklicher Abläufe
mit physikochemischen absurd erscheinen lassen. Aber wir hätten
ebenso gut als Gedankeninhalte und Gedankenfolgen ja auch den
Motivationszusammenhang, insbesondere Werterlebnisse in den Vor¬
dergrund stellen können. Und wir hätten auch das Gefühlsleben
heranziehen können, auf das der Parallelismus in einer besonderen
Form sich gerne beruft. Der Schmerz ist der Schmerzensschrei, sagt
W. Sombart und sagte W. James. Nein, der Schmerzensschrei ist der
Ausdruck des Schmerzes, schon eines physischen Schmerzes. Der
Zahnschmerz und der Schmerz beim Zahnziehen ohne Betäubung
sind nicht wesensverschieden, ob der Patient schreit, stöhnt oder
unhörbar bleibt, gleichviel ob er dabei schreien möchte oder dem
Schmerz weder akustisch noch sichtbar „Ausdruck“ gibt. Und erst
recht ist der seelische Schmerz nicht identisch mit dem Ausdruck.
Es sei keineswegs bestritten, daß der Schmerz durch den Ausdruck
rückbeeinflußt, vielleicht erleichtert werden kann (Weinen), wenig¬
stens durch einen geeigneten Ausdruck, daß er zum Ausdruck drängt
und mit dem Ausdruck sich modifiziert, aber diese Tatsache als Iden¬
tität zu erklären, ist eine verwirrende Übertreibung und falsch.
Und umgekehrt ist der Ausdruck nicht der Schmerz, er kann viel¬
mehr auch Gebärde sein11.
Also Physisches als Ausdruck und Psychisches als Inhalt sind nicht
identisch noch eindeutig parallel, sondern verhalten sich wie Ursache
11 Vgl. G. Woiß, Das Lebensproblem, S. 315.
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