Full text: Hans Driesch

sehen Geschehens“ (in der strengen Bedeutung dieses Wortes) spre- 
chen kann; die Behauptung, ganzheitlich bestimmtes Geschehen sei 
einzig im Reich des Organischen nachweisbar, ist heute umstritten. 
Manches deutet zum Beispiel darauf hin, daß sich auch die Gebilde 
der atomaren Welt in gewisser Weise ganzheitlich verhalten, ja daß 
sie Selbstregulationen kennen, wie sie ähnlich, wenn auch auf anderer 
Ebene, Orgnismen zukommen. In diesem Sinne hat Max Planck schon 
vor Jahren davon gesprochen, daß wir offenbar nur dann zu einem 
Verständnis mikrophysikalischer Vorgänge gelangen können, wenn 
wir in den atomaren Gebilden jeweils ein Ganzes sehen, das seine 
Teile von sich aus bestimmt. Immer mehr kommt die Physik dahin, 
gewisse Erscheinungen der anorganischen Natur unter Bildern zu 
verstehen, die der Deutung der organischen Welt entlehnt sind und 
die einst ihr allein als angemessen galten. „Gestalt“, die mehr ist als 
die Summe der Teile, zeigen mancherlei Gebilde der anorganischen 
Welt. Es sei an die Kristalle erinnert, deren Moleküle sich in solcher 
Weise ordnen. Gleiches gilt auch für den Aufbau dieser Moleküle 
selbst. Manches läßt vermuten — um mehr als Vermutungen kann es 
sich hier nicht handeln —, daß allein jenes Zwischenreich der Materie, 
das von mikrophysikalischen Gefügen einerseits und von kosmischen 
Systemen andererseits begrenzt wird, einer summenhaften Deutung 
zugänglich ist. So könnte sogar die durch Pascual Jordan in den 
letzten Jahren entwickelte Hypothese über die Entstehung unseres 
Alls dahin verstanden werden, daß dieses All als ein Ganzes begriffen 
werden muß. Ähnliche Schlüsse würde die Auffassung Arthur Edding¬ 
tons, daß sich in der Struktur jedes Atoms der Bau des Kosmos gleich¬ 
sam widerspiegelt, sowie auch seine Anschauung über die einsinnige 
Richtung des Weltprozesses nahelegen. Endlich seien in diesem Zu¬ 
sammenhang gewisse, zwar stark spekulative Überlegungen Edgar 
Dacque’s genannt, die darauf hinweisen, daß die Geschehnisse in der 
Welt nicht nur kausal aufeinander wirken, sondern daß sie darüber 
hinaus eine Entsprechung zeigen. Dies würde heißen, daß jedes 
Ereignis seinen Reflex in zahllosen anderen, mit ihm gleichzeitigen 
Vorgängen findet. Verhält es sich so, dann wäre die gesamte Wirk¬ 
lichkeit ein innerlich Ganzes. 
Eine Sicht der Natur, die Ganzheit auch im Anorganischen erblickt, 
erhebt heute gegen Driesch’s Lebensdeutung bisweilen den Einwurf, 
daß sie die Einheit der Wirklichkeit künstlich zerreißt. Seinem Vita¬ 
lismus wird also entgegengehalten, daß er einen Unterschied zwischen 
Organischem und Anorganischem konstruiert, der in dieser Schärfe 
nicht besteht: nicht weil es gelungen wäre, die Lebenserscheinungen 
als Sonderfall chemisch-physikalischer Vorgänge zu begreifen, son¬ 
dern weil sich unser Bild von der anorganischen Natur gewandelt 
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