sehen Geschehens“ (in der strengen Bedeutung dieses Wortes) spre-
chen kann; die Behauptung, ganzheitlich bestimmtes Geschehen sei
einzig im Reich des Organischen nachweisbar, ist heute umstritten.
Manches deutet zum Beispiel darauf hin, daß sich auch die Gebilde
der atomaren Welt in gewisser Weise ganzheitlich verhalten, ja daß
sie Selbstregulationen kennen, wie sie ähnlich, wenn auch auf anderer
Ebene, Orgnismen zukommen. In diesem Sinne hat Max Planck schon
vor Jahren davon gesprochen, daß wir offenbar nur dann zu einem
Verständnis mikrophysikalischer Vorgänge gelangen können, wenn
wir in den atomaren Gebilden jeweils ein Ganzes sehen, das seine
Teile von sich aus bestimmt. Immer mehr kommt die Physik dahin,
gewisse Erscheinungen der anorganischen Natur unter Bildern zu
verstehen, die der Deutung der organischen Welt entlehnt sind und
die einst ihr allein als angemessen galten. „Gestalt“, die mehr ist als
die Summe der Teile, zeigen mancherlei Gebilde der anorganischen
Welt. Es sei an die Kristalle erinnert, deren Moleküle sich in solcher
Weise ordnen. Gleiches gilt auch für den Aufbau dieser Moleküle
selbst. Manches läßt vermuten — um mehr als Vermutungen kann es
sich hier nicht handeln —, daß allein jenes Zwischenreich der Materie,
das von mikrophysikalischen Gefügen einerseits und von kosmischen
Systemen andererseits begrenzt wird, einer summenhaften Deutung
zugänglich ist. So könnte sogar die durch Pascual Jordan in den
letzten Jahren entwickelte Hypothese über die Entstehung unseres
Alls dahin verstanden werden, daß dieses All als ein Ganzes begriffen
werden muß. Ähnliche Schlüsse würde die Auffassung Arthur Edding¬
tons, daß sich in der Struktur jedes Atoms der Bau des Kosmos gleich¬
sam widerspiegelt, sowie auch seine Anschauung über die einsinnige
Richtung des Weltprozesses nahelegen. Endlich seien in diesem Zu¬
sammenhang gewisse, zwar stark spekulative Überlegungen Edgar
Dacque’s genannt, die darauf hinweisen, daß die Geschehnisse in der
Welt nicht nur kausal aufeinander wirken, sondern daß sie darüber
hinaus eine Entsprechung zeigen. Dies würde heißen, daß jedes
Ereignis seinen Reflex in zahllosen anderen, mit ihm gleichzeitigen
Vorgängen findet. Verhält es sich so, dann wäre die gesamte Wirk¬
lichkeit ein innerlich Ganzes.
Eine Sicht der Natur, die Ganzheit auch im Anorganischen erblickt,
erhebt heute gegen Driesch’s Lebensdeutung bisweilen den Einwurf,
daß sie die Einheit der Wirklichkeit künstlich zerreißt. Seinem Vita¬
lismus wird also entgegengehalten, daß er einen Unterschied zwischen
Organischem und Anorganischem konstruiert, der in dieser Schärfe
nicht besteht: nicht weil es gelungen wäre, die Lebenserscheinungen
als Sonderfall chemisch-physikalischer Vorgänge zu begreifen, son¬
dern weil sich unser Bild von der anorganischen Natur gewandelt
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