Leipzig, 25. April 1939
Wenn Sie in Ihrem inhaltreichen Brief vom 25. März sagen, daß wir
Ihrer Ansicht nach „im Wesentlichen einig“ sind, so ist das auch meine
Überzeugung, und ich freue mich dieser Übereinstimmung aufrichtig, be¬
sonders deshalb, weil sie auf recht verschiedenen Wegen des Denkens
zustande kam.
Ich möchte bemerken, daß sich die Übereinstimmung zwischen uns auch
auf die Stellung zu Ostwalds reiner Energetik bezieht. Zumal im Gebiet
des Chemischen und Aggregativen sind in der Tat Begriffe von „Inten¬
sitätsdifferenz“, „Kompensation“ etc. recht leer. Es sind bloße „schema¬
tische Ausfüllbegriffe“, wie ich übrigens in den „Naturbegriffen und Natur¬
urteilen“ (1904) schon sah, um später immer mehr in dieser Überzeugung
bestärkt zu werden. —
Vielleicht einigen wir uns nun auch noch hinsichtlich des organischen
Monismus, bzw. Unitarismus, in dem Sinn, daß das letzte Grundgesetz
alles unbelebten Geschehens stets dasselbe ist. Persönlich möchte ich zwar
die Hoffnung nicht aufgeben, daß die gesamte Physik, Chemie und Kri¬
stallographie sich doch noch einmal auf klassische Mechanik reduzieren
lassen. Aber ich will Ihnen nun (ex hypothesi) zugeben, daß das in der
Tat nicht möglich sei.
Bleibt aber nicht auch dann die Möglichkeit eines anorganischen Uni¬
tarismus bestehen? Die Grundlage würden die Gesetje der Atomphysik,
die „Mikrophysik“ bilden. Alles andere Gesetzliche aber würde zu Re¬
sultanten aus dem Mikrogeschehen und zwar in stufenförmigem Aufbau,
indem stets die höhere Resultantengemeinschaft sozusagen auf der jeweils
niedrigeren gelagert ist. Da ergäbe sich dann die Reihenfolge:
Atomphysik — gewöhnliche Chemie — Katalyse — Lehre von den
Aggregatzuständen — Kristallographie.
Wesensunterschiede im Sinne Schopenhauers gäbe es da also im An¬
organischen nicht. Es gäbe nur Gradunterschiede mit Bezug auf die Stufe
der jeweiligen Resultante.
Würden Sie das zugeben? Wenn Sie es täten, wären wir auch in diesem
wesentlichen Punkte einig, und nicht nur hinsichtlich der Tatsache, daß
zwischen Anorganischem und Organischem jedenfalls eine ganz große
Kluft — (nach Ihnen die größte aller Klüfte, nach mir die einzige) —
gelegen ist.
Diese ganze Argumentation ist, um das noch einmal zu sagen, von der
Frage „Klassische oder moderne Physik“ unabhängig; sie geht nur auf
die Frage des Unitarismus im Reiche des Unbelebten. —
Diese Zeilen werden Sie in einer politisch sehr bewegten Zeit erreichen;
hoffentlich wird sie nicht allzu „bewegt“!
P. S. Mein großes Bedenken gegen die modernste Physik, wenigstens
wenn man sie indeterministisch auffaßt, ist dieses: Ohne Determinismus
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