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II. Elementarlehre.
Aus dieser Konstruktion folgen die charakteristischen
„Axiome“ des Euklidischen Raumes: 1. Zwei Gerade haben
nicht mehr als einen Punkt gemein; 2. Zwei von einer ge¬
gebenen gleich und gleichsinnig verschiedene Richtungen
in der Ebene sind einander gleich, bilden also miteinander
keinen Winkel. Jede Konstruktion in dem gedachten Raum
ist von jedem Punkt aus unter Wahrung aller metrischen
und Richtungsbeziehungen, auch zu beliebigem Maßstab
ausführbar, weil im durchaus homogenen Raum jede Distanz
jede muß vertreten können. Eine endliche Raumkonstante
(Krümmungsmaß verschieden von Null) ist ausgeschlossen,
denn wenn durch jedes Paar von Punkten gleicherweise
eine Gerade nach Richtung und Länge bestimmt ist, so
ist irgendein absolutes Maß der Länge, eine kleinste
oder größte oder sonstwie ausgezeichnete Entfernug aus¬
geschlossen.
§ 33. Die „nichteuklidische Geometrie.“
Das durch viele Jahrhunderte fortgesetzte vergebliche
Bemühen, den euklidischen Parallelensatz, der nicht, wie
die übrigen Grundvoraussetzungen der klassischen Geometrie,
unmittelbare Evidenz zu besitzen schien, aus diesen übrigen
Voraussetzungen zu beweisen, führte endlich auf den Ver¬
such, ob vielleicht eine Geometrie mit Absehung vom
Parallelensatze ohne Widerspruch möglich sei; es ergab
sich, daß nicht bloß eine, sondern mehrere solche „nicht-
euklidische“ Geometrien möglich und eines gleich syste¬
matischen Ausbaus fähig sind wie die euklidische. In
dieser Entdeckung wurde nun vielfach eine Widerlegung
der Kantischen Behauptung des euklidischen Raumes als
durch „reine Anschauung“ gegeben, und ein Beweis des
nur empirischen Charakters der euklidischen (im Unter¬
schied von einer anderen) Geometrie gegeben.
Indessen hat zunächst Kant gar nicht eine absolute
Denknotwendigkeit des euklidischen Raumes behauptet,
sondern vielmehr eben daraus, daß er keine absolute Denk¬
notwendigkeit, und dennoch eine unabweisliche Voraus¬
setzung unserer mathematischen Wissenschaft sei, ge¬
schlossen, daß ihm eine andere, eigene Art von Notwendigkeit,
eben die einer „reinen Anschauung“ zukomme. Daß aber