1.2. Die historische Person des Eudes Herpin
Die Vita des Vizegrafen Eudes Herpin de Bourges, häufig auch Harpin oder Arpin ge¬
nannt, liegt der Chanson-de-geste ,Lion de Bourges' und damit auch dem Prosaroman
Elisabeths, versetzt in das Heldenzeitalter Karls des Großen, in legendenhafter Umfor¬
mung zu Grunde. Dieser heiratete um 1092 Mathilde, die älteste Tochter von Gilles I. de
Sully, die von ihrem Onkel Etienne de Bourges die Grafschaft als Erbe erhielt.1'1 Eudes
wurde damit nach dem Recht seiner Frau Vizegraf von Bourges. Er schloss sich dem Ge¬
folge Herzog Wilhelms IX. von Aquitanien an, das zum so genannten Kreuzzug von 1101
aufbrach. Um sich die kostspielige Pilgerfahrt leisten zu können, verpfändete Eudes 1098
seine Grafschaft für 60.000 Sous an den französischen König Philipp I.10- Im Heiligen
Land geriet er bei der Schlacht von Ramallah in Gefangenschaft der Sarazenen. Nach sei¬
ner Freilassung kehrte er nach Frankreich zurück und trat als Mönch dem Kloster Cluny
bei, in dem er um 1109 starb.1"’ Danach wurde Bourges in die Herrschaftsgebiete des Kö¬
nigs eingegliedert. Um seine Person entstand unter den Einwohnern von Bourges eine
Geschichte, in der sein Sohn Lion die verpfändete Grafschaft zurückerlangt, indem er das
Horn, das nur der wahre Erbe blasen kann, zum Klingen bringt.1"4
Den historischen Kern der Chanson-de-geste bildet — kaum noch erkennbar — das Le¬
ben dieses Vicomte von Bourges Ende des 11. Jahrhunderts, das in die Heroenzeit verlegt
wurde.11"’ Die Sage um Lion de Bourges basiert also auf einem Kreuzzug in das Heilige
Land. Zwar verliert der literarische Herpin ebenfalls sein Fürstentum (Herzogtum), aber
nicht aus materiellen Gründen, sondern vielmehr aus machtpolitischen. In der literari¬
schen Bearbeitung lassen sich einige Parallelen zu dem Leben des Vizegrafen von Bour¬
ges, Eudes Herpin, ziehen, doch ist die Vita der historischen Person im literarischen
,Herpin4 intensiv überlagert von dessen verschiedenen Abenteuerfahrten.1"6
101 Müller 1905, S. 1.
102 Wilhelmi 1894, S. 6f.; VON Bloh 2002a, S. 104; Liepe 1920, S. 106; SUCHIER 1884, S. LXXXI.
103 Müller 1905, S. 1; VON BLOH 2002a, S. 104; SUCHIER 1884, S. LXXXI.
104 So SUCHIER 1884, S. LXXXI: „Un des derniers événements qui ont fait naître des chansons de geste est
la réunion de la vicomté de Bourges à la couronne de France. Ce fut en 1098 qu’Eudes Harpin, vicomte
de Bourges par son mariage avec Mahaut, nièce et héritière du vicomte Etienne, au moment de partir
pour la Terre-Sainte, vendit sa vicomté à Philippe I. Harpin mourut, après 1109, dans l’abbaye de Cluni.
Les Barrichons, qui voyaient expirer avec regret leur autonomie féodale, formèrent une tradition, selon
laquelle leur dernier maître, Harpin, qui se fit moine à son retour de la croisade, aurait eu un fils, Lion; ce
fils devait venir un jour réclamer son héritage, et il prouverait qu’il était le vrai héritier du fief en sonnant
le cor merveilleux que l’on voyait figuré sur l’un des murs du palais de Bourges.“ Ein Horn kommt auch
in der Rolandslegende (,Chanson de Roland^) vor, dort erhält es Roland von einem Engel.
105 MÜLLER 1990, S. 1100. BASTERT 2014, S. XVI Anm. 24 weist darauf hin, dass der Prosaroman selbst
gegen Ende (S. 772, Z. 24) diesen Herpin als Urenkel Lewes und als Kreuzzugsteilnehmer erwähnt, und
damit das Geschehen weiter zu historisieren sucht.
106 Liepe 1920, S. 106.
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