Bevölkerung und bot damit mehr Menschen Anstellung als die Landwirtschaft. 4 * Die
Bevölkerung insgesamt stieg zwischen 1870 und 1890 von 172.000 auf 112.000 Einwoh¬
ner. 1910 zählte Luxemburg dann rund 260.000 Einwohner. 1
Seinen markantesten Niederschlag fand der gesellschaftliche Transformations¬
prozess in einer frappierenden demographischen Umkehr. Luxemburg wandelte
sich, so kann man generalisierend zusammenfassen, von einem Aus- in ein Einwan¬
derungsland. 6 8 Sorgten vor dem industriellen Zeitalter verschiedene Krisen immer
wieder für massive Auswanderungsschübe, so kamen seit dem letzten Drittel des
19. Jahrhunderts immer mehr Menschen auf der Suche nach Arbeit in den Süden des
Landes. Dies waren zunächst Arbeitsmigranten aus den Nachbarstaaten, besonders
aus Deutschland, und dann, seit den 1890er Jahren, in großem Umfang Italiener. In
der Zwischenkriegszeit traten dann noch Arbeitsmigranten aus Ost- und Südosteu¬
ropa hinzu, wenn auch bei weitem nicht im gleichen quantitativen Umfang wie die
Italiener. Angesichts der ausgeprägten Fernwanderung und der Einwanderung aus
den Nachbarstaaten wurde in der Forschung die luxemburgische Binnenmigration,
das heißt die Wanderung von ländlichen Gebieten in den Industriebezirk oder der
Bevölkerungsaustausch innerhalb der Minnettegegend, eher vernachlässigt, obwohl
auch diese Form der Migration eine sehr wichtige Rolle spielte. s Die weiterhin agra¬
risch geprägten Regionen des Großherzogtums wurden also auch mehr oder weniger
unmittelbar von der Industrialisierung tangiert, indem sie ihre Uberschussbevölke¬
rung an den industriellen Süden abgaben.
Beide Industrieregionen standen in einem engen Zusammenhang. Der Übersicht¬
lichkeit wegen wurden zwar Saarrevier und Minettebezirk getrennt behandelt, aber
es bestanden zahlreiche sozioökonomische Verflechtungen. 9 Für den hier besonders
interessierenden Bereich der Schwerindustrie sei etwa auf den grenzüberschreitenden
ARBED-Konzern verwiesen, der die beiden Betriebe in Düddingen und Burbach bei
Saarbrücken integrierte. Durch den Zollverein und die spätere Zollunion partizipierten
Luxemburg und die Saarregion ohnehin bis zum Ende des Ersten Weltkriegs an einem
einheitlichen Wirtschaftsraum. Hingewiesen wurde ferner auf deutsches Kapital und
4 Vgl. Trausch 2003, S. 229.
8 Zahlen nach ebd., S. 229 f. und Calmes 1989, S. 428.
76 Jean-Luc Mousser schreibt beispielsweise: „De pays d’émigration, le Luxembourg est devenu un pays
d’immigration.“ Siehe MouSSET 1988, S. 13. Andere, ähnlich lautende Formulierungen könnten aufge¬
führt werden.
Einen knappen Überblick über die Immigration nach Luxemburg liefert u.a. Pauly, Michel:
L’immigration dans la longue durée. Esquisse introductive, in: Pauly, Michel (Hrsg.): Lëtzebuerg de
Lëtzebuerger? Le Luxembourg face à l’immigration, Luxemburg 1985, S. 7-21.
8 Nach Denis Scuto stellt die luxemburgische Binnenwanderung ein „phénomène peu analysé jusqu’à
aujourd’hui“ dar. Siehe Scuto 2008, S. 393.
9 Vgl. dazu Thomes 1988.
58