IV Zwischen betrieblicher Sozialpolitik und
latenter Prekarität: Leben in der Industriegemeinde
Die starke Binnenditferenzierung und Fragmentierung der Belegschaft wurde anhand
der Arbeitssituation und Belegschaftsstruktur im integrierten Hüttenwerk als ein kon¬
stitutives Merkmal der Eisen- und Stahlarbeiterschaft herausgestellt. Diese Tendenz
setzte sich außerhalb der Werksmauern fort: Die Eisen- und Stahlarbeiterschaft zerfiel
in ein in hohem Maße alimentiertes und privilegiertes Segment und in einen weniger
privilegierten, teilweise auch sozial gefährdeten Teil. Die Forschung spricht auch - in
Anlehnung an den Bergbau und die zeitgenössische betriebliche Terminologie - von
einem „ständigen“ und einem „unständigen“ Teil der Belegschaft, wobei erstgenannte
Gruppe auch unter der Bezeichnung „Stammarbeiter“ firmiert.48 Dazwischen existier¬
ten zahlreiche Abstufungen und Schattierungen.
Differenzierend wirkte vor allem die betriebliche Sozialpolitik, von der zwar alle Ar¬
beiter in gewissem Maße profitierten, aber keineswegs im gleichen Umfang. Die sozi¬
alpolitischen Aktivitäten der Hüttenunternehmen werden im ersten Abschnitt dieses
Kapitels in ihren Intentionen, Formen und (möglichen) Folgeerscheinungen diskutiert,
sodann wird der Blick auf diejenigen Segmente der Belegschaft gerichtet, die partiell da¬
von ausgeschlossen blieben. Sie sahen sich größeren Existenzgefährdungen ausgesetzt,
entwickelten aber Strategien, diese zu bewältigen. Es folgt ein Exkurs, in dem unter Be¬
zugnahme auf die Arbeitssituation im Betrieb und die Lebenswelten in der Industrie¬
gemeinde generalisierende Konzepte', wie sie in der Sozialgeschichtsschreibung unter
Rückgriff auf vor allem aus der Soziologie stammende Theorien und Methoden häufig
angewandt wurden, hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit in der Eisen- und Stahlarbeiter¬
geschichtsschreibung hinterfragt werden. Schließlich fragt dieses Kapitel nach dem Ein¬
fluss des Hüttenwerks jenseits der Fabriktore. Dabei spielt neben der Sozialpolitik das
repressive Potenzial der schwerindustriellen Arbeiterpolitik eine zentrale Rolle.
i Betriebliche Sozialpolitik: Intentionen - Formen - Folgeerscheinungen
i.i Zwischen materieller Befriedung, sozialer Disziplinierung und betriebswirt¬
schaftlichem Kalkül: Intentionen und Funktionen betrieblicher Sozialpolitik
Der hier zu behandelnde Themenkomplex offenbart sehr anschaulich die Problematik
von Begriffiichkeiten in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion.t8S Wenn in der Ka-
Vgl. Коска 1990, S. 409 f.
488 Eine problemorientierte Begriffsdiskussion bietet in diesem Zusammenhang Hilger, Susanne: So¬
zialpolitik und Organisation. Formen betrieblicher Sozialpolitik in der rheinisch-westfälischen Eisen-
und Stahlindustrie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933 (Zeitschrift für Unternehmensgeschich¬
te, Beiheft 94), Stuttgart 1996, S. 36-40.
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