Wenn Karsten Uhl in einem rezenten Beitrag behauptet, der Arbeitsschutz habe „ei¬
nen Ausgangspunkt für den Einzug flexibler Konzepte [der Unternehmensleitung und
-Verwaltung] jenseits repressiver Machtmechanismen“ dargestellt und dabei auf den
Dialog von Werksleitung und Arbeitnehmervertreter in formalisierten Gremien und
Zusammenkünften verweist, so ist dies mit Blick auf Düdelingen stark zu relativieren.113
Zwar gab es formalisierte Zusammenkünfte mit klaren Abläufen, aber die tatsächliche
Handlungsmacht lag bei der Werksleitung. Die Arbeiterdelegation in Düdelingen durf¬
te wohl Kritikpunkte äußern, aber über die Durchführung konkreter Maßnahmen zum
Arbeitsschutz entschied die Führung. Im konkreten Fall wurde auf Sicherheitsmängel
hingewiesen, ihre Behebung erfolgte aber nicht.
Dabei hatte die hohe Zahl an Unfällen zu diesem Zeitpunkt schon eine gewisse trau¬
rige Tradition im Düdelinger Werk. 1907 ereignete sich im Stahlwerk eine ganze Reihe
von Unfällen, als auf der Konverterbühne kochender Stahl austrat. Da die eigentlich
vorgesehenen Fluchtwege nicht vorhanden waren, kam es zu schweren Verletzungen
und sogar zu Todesfällen. Daraufhin mahnte Charles Eydt, der seit 1901 das Amt des
inspecteur du travail bekleidete und in dieser Funktion eine wichtige Rolle bei der Im¬
plementierung des Arbeitsschutzes in Luxemburg spielte, bei der Werksdirektion drin¬
gend Verbesserungen an. Auch in diesem Falle reagierte die Werksleitung offensichtlich
schwerfällig, kam es doch wenige Monate später erneut zu einem Todesfall.114
Uber die um sich greifende Unfallgefahr im Neunkircher Eisenwerk informieren die
Stummschen Zirkulare. Etliche Male beklagte Stumm die hohe Zahl an Arbeitsunfällen
und nahm dafür neben den Arbeitern ganz besonders die Meister in die Verantwortung,
die ihre Aufsichtspflicht verletzt hätten. Am 23. August 1S86 stellte Stumm zunächst
fest, die Unfallzahlen hätten sich „dramatisch erhöht“, um sogleich eine Fehlerdiagno¬
se anzustrengen: „In fast allen Fällen sind dieselben [...] durch pure Unvorsichtigkeit
entstanden und hätten durch strenge Aufsicht vermieden werden können.“ Meister und
Aufseher seien - „bei nachweislicher Verletzung der Aufsichtspflicht“ - mit mindestens
vier Mark zu bestrafen, den Beamten wurde im gleichen Falle gar ein Gerichtsverfahren
angedroht.113 Dieser Stummsche Ukas entwirft ein interessantes Bild vom Innenleben
des Neunkircher Eisenwerks: Die Hierarchie war zwar klar nach Positionen und Privile¬
gien geordnet, aber mit den Vorteilen einer höheren Stellung gingen erhöhte Verpflich¬
tungen und Verantwortungen einher. Ein Privatbeamter gehörte der Funktionselite des
Betriebs an, aber von ihm wurde auch eine tadellose Leistung erwartet, andernfalls er
mit harten Sanktionen zu rechnen hatte.
Einen gewissen Höhepunkt fand der von Stumm forcierte Unfallverhütungsdiskurs
am 20. Februar 1888, als der Firmenchef ein vernichtendes Urteil fällte: „Die Betriebs-
113 Siehe Uhl 2012, S. 384.
1U Vgl. Scuto 1992, S. 39—66. Hier finden sich auch einige Informationen zur Tätigkeit des Arbeits¬
inspektors Charles Eydt, der als eine Art Vermittler zwischen Arbeiterschaft und Patronat fungierte
und diese Rolle wohl auch sehr gewissenhaft und selbstbewusst auszufüllen wusste.
115 Die Circulare des Carl Ferdinand Stumm, Nr. 37, 23.8.1886, S. 31 f.
221