dass um den Durchschnittswert von 1,7 zu erreichen, manche Betten „von 3 und sogar
von mehr Personen benutzt werden“.699 * Da, wie aus der Untersuchung hervorgeht, die
Wohnverhältnisse im italienischen Wohnviertel am schlechtesten waren, dürften diese
hohen Werte gerade dort verstärkt zu verbuchen gewesen sein. Es dürfte weiterhin nicht
selten vorgekommen sein, dass angesichts der Uberbelegung der Schlafstellen diese ge¬
wissermaßen in Schichten, den Arbeitsschichten auf dem Werk entsprechend, genutzt
wurden.
Die widrigen Lebensumstände konnten zum Teil dadurch ein Stück weit kompen¬
siert und in ihren Wirkungen etwas abgemildert werden, dass sich im italienischen Vier¬
tel ein veritables Eigenleben, gestützt auf landsmannschaftliche Zusammengehörigkeit
und Solidarität, entwickelte. Zumindest ciie Tatsache, dass man isoliert in einer frem¬
den kulturellen Umgebung leben und arbeiten musste, wurde partiell relativiert. Die
Italiener schufen sich in gewissem Umfang ihre eigene Infrastruktur. So entstanden um
die fahrhundertwende und darüber hinaus zahlreiche Geschäfte verschiedenster Art.
Benito Gallo nennt unter anderem Bäckereien, Metzger- und Fleischereien, ein Wein¬
geschäft, Schmiede und Eisenwarenhändler sowie Friseurgeschäfte. Etliche Bedürfnisse
das Alltags konnten damit abgekoppelt von den anderen Wohnvierteln befriedigt wer¬
den. Eine ganz wichtige Rolle nahmen die zahlreichen Cafés ein. Nach Gallo gab es
1902 in Düdelingen nicht weniger als 96 Cafés, immerhin 33 davon im Viertel Italien. 00
Die Cafés und Wirtshäuser waren selbstverständlich Orte der Geselligkeit, wo man
Zerstreuung fand und Abwechslung vom harten Arbeitsleben. Die größeren Lokalitä¬
ten verfügten auch über Räumlichkeiten, in denen Feiern, Tanzabende und ähnliche
Veranstaltungen abgehalten werden konnten. Die Bedeutung der Cafés erschöpfte sich
aber nicht in ihren Freizeitfunktionen, sie hatten auch kompensatorische Bedeutung.
Die Wohnungen verdienten zu einem großen Teil, wie oben gezeigt, kaum diesen Na¬
men, vielmehr handelte es sich oft um reine Schlafstellen. Sie waren nicht dazu angetan,
soziales Leben zu pflegen. Die Cafés boten dafür Ersatz, indem sie Raum für soziale
Begegnung bereit stellten. In sozialpsychologischer Hinsicht darf mit Sicherheit ange¬
nommen werden, dass die Cafés mögliche Spannungen, die aufgrund der beengten Le¬
bensverhältnisse schnell aufkommen konnten, kanalisierten und das soziale Leben im
Quartier funktionsfähig machten. Außerdem dienten die Gaststätten nicht selten als
erste Anlaufstelle für Neuankömmlinge, die auf Arbeits- und Wohnungssuche waren.
Die Cafés gewannen somit den Charakter von Wohnungs- und Jobbörsen. Alles in al¬
lem ist ihre Bedeutung für das Innenleben des italienischen Viertels nicht hoch genug
einzuschätzen.701
699 Ebd., S. 51.
00 Gallo 1987, S. 119.
01 James S. Roberts schreibt: „Das Wirtshaus kam vielen grundlegenden Bedürfnissen entgegen, von
denen nicht alle in striktem Sinne etwas mit Freizeit zu tun hatten.“ Als weitere Funktionen nennt
er unter anderem seine Bedeutung T Nachtquartier, Versammlungsort oder Arbeitsvermittlung.
Roberts, James s.: Wirtshaus und Politik in der deutschen Arbeiterbewegung, in: Huck, Gerhard
185