Es ist prinzipiell schwierig, mentale Folgewirkungen konfessioneller Verankerung zu
messen. Jedenfalls wird anhand der oben geschilderten Haltung des Hüttenherrn klar,
wie angreifbar der Begriff des ,Sozialkonservativismus1 gerade im Zusammenhang mit
den katholischen Arbeitern ist: Das offene Bekenntnis zum Katholizismus war hier
eben nicht zur Affirmation der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ord¬
nungangetan. Man setzte sich vielmehr bewusst in Gegensatz zur protestantischen Ob¬
rigkeit. Besonders virulent wurde dieser Umstand in einem konfessionell aufgeladenen
Konflikt, wie er sich im zweiten Jahrfünft der 1870er im saarländischen Ort Marpingen
zugetragen hatte. In der zutiefst katholischen Gemeinde kam es zu veritablen Unruhen,
nachdem drei achtjährige Mädchen behauptet hatten, ihnen sei die Jungfrau Maria er¬
schienen. Das Dorf entwickelte sich zu einem regelrechten Wallfahrtsort, sodass sich die
preußische Regierung gezwungen sah, über Marpingen den Belagerungszustand zu ver¬
hängen. Aufgrund der konfessionellen Gegensätze zwischen protestantischer Obrigkeit
und katholischer Bevölkerung hatte die Auseinandersetzung eine politische Dimension
aller ersten Ranges.664 Ein Jahr nach den Marpinger Ereignissen und gewissermaßen in
deren Dunstkreis trug sich ähnliches in der kleinen Ortschaft Münchwies in unmittel¬
barer Nachbarschaft Neunkirchens zu. Einige Schulkinder wollten in einer Schlucht
die Muttergottes in Begleitung eines schwarzen Mannes gesehen haben, woraufhin am
29. Juli 1877 ca. 4.000 Personen in das Dorf pilgerten.665 Der Kulturkampf mit all sei¬
nen Nebengeräuschen hinterließ also in Neunkirchen und Umgebung deutliche Spuren.
Man kann insgesamt davon ausgehen, dass die Neunkircher Hüttenarbeiterschaft
durchaus fest verankert war im christlichen Glauben und in kirchlichen Strukturen, dass
die Religion mithin eine wichtige Rolle in ihrem Denken und Leben einnahm. Sie war
fester Bestandteil ihres soziokulturellen Profils. Der Katholizismus spielte in Neunkir¬
chen eine wichtige Rolle, auch wenn er nicht, wie in anderen Industriegemeinden des
Saarreviers, die Konfession der Mehrheit war. Zur Bewertung der katholischen Prägung
der Arbeiterschaft im Saarrevier muss die besondere Konstellation während des Kai¬
serreichs berücksichtigt werden. Der katholische Glaube konnte wohl, genau wie der
Evangelische, eine Art Eskapismus bewirken, der die Arbeiter von modernen Ideen, wie
sie im Zeitalter der Industrialisierung aufkamen, fern hielt; er barg aber in der speziellen
Neunkircher Konstellation auch ein nicht zu unterschätzendes Oppositionspotenzial in
sich. Auch wenn der katholische Glaube also nicht zwangsläufig zu einer blinden Ob¬
rigkeitshörigkeit führte, so darf seine Wirkungsmacht zugleich aber als Organisations¬
hemmnis für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung gelten, die als säkular ausge¬
richtete Strömung in strenger Opposition zum Katholizismus stand.
664 Vgl. dazu die umfangreiche Studie von Blackbourn, David: Marpingen - Das deutsche Lourdes
in der Bismarckzeit (Echolot. Historische Beiträge des Landesarchivs Saarbrücken, Bd. 6), Saarbrücken
2007, passim.
665 Vgl. Hilgers 1005, S. 718.
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