um Unpünktlichkeit von Arbeitern, welche streng gerügt wurde. Einige Arbeiter wür¬
den an Samstagen die Schicht bereits um 17.30 Uhr verlassen statt wie vorgeschrieben
um 18 Uhr mit der Begründung, „den Zug in Richtung St. Wendel zu verpassen“. Es
handelte sich dabei um die Bahnlinie Neunkirchen-Kreuznach, die seit dem z6. Mai
1860 im Betrieb stand.62s Dass dieses Problem explizit für die Samstage vorgetragen
wird, deutet darauf- hin, dass es sich um Wochenpendler handelte. Deren Zahl war si¬
cherlich nicht gering, stellte doch der preußische Landkreis St. Wendel eines der wich¬
tigsten Herkunftsgebiete. Stumm zeigte sich in dieser Angelegenheit konziliant und
räumte seinen Beschäftigten ein, um 17.30 Uhr gehen zu dürfen, falls die Mittagspause
entsprechend verkürzt würde. Verspätungen an Montagen allerdings wurden auch den
außerhalb wohnenden Arbeitern nur mit ausdrücklicher Sondergenehmigung gestat¬
tet.628 629 Stumms Entscheidung verweist auf die Bedeutung des Pendlerwesens, das so weit
verbreitet war, dass selbst die ansonsten streng normierten Betriebsabläufe der Hütte
partiell daran angepasst wurden. Die Neunkircher Hüttenarbeiter setzten sich in die¬
sem Falle als eigenständig handelnde Akteure über die vom Unternehmen vorgegeben
Richtlinien hinweg und schafften es, durch ihr Handeln die Strukturen in ihrem Sinne
zu modifizieren.630 Es bleibt festzuhalten, dass eine große Zahl der Hüttenarbeiter in
regelmäßigen Abständen in ihr dörfliches Umfeld zurückkehrte, die Verbindungen zum
ländlich-agrarischen Herkunftsmilieu blieben somit lebendig.631
An zwei Sachverhalten, nämlich der Versorgung mit landwirtschaftlichen Produkti¬
onsmitteln und den durch das Pendlerwesen aufrecht erhaltenen Verbindungslinien zu
den Heimatdörfern, wurde darzustellen versucht, wie agrarische Lebensformen auch in¬
nerhalb der industriellen Umwelt fortwirkten. Die Sozialgeschichtsschreibung operiert
mit einem idealtypischen Konzept, welches die Überlappung proletarisch-industrieller
Arbeiter- und ländlich-agrarischer Bauernexistenz brennspiegelartig zusammenfasst:
mit dem Begriff des Arbeiterbauern. Zwar war dieser Sozialtypus eine weit verbreite¬
te Existenzform im Zeitalter der Industrialisierung und mitnichten auf die Saarregion
zu beschränken.632 Dennoch kennzeichnete der ,Arbeiterbauer1 gerade das Saarrevier.
Klaus Fehn schreibt dazu: „Für die Wirtschafts- und Sozialstruktur des Saarlandes im
19. und zo. Jahrhundert spielt das Arbeiterbauerntum, vor allem der landwirtschaftliche
628 Siehe Hoppstädter 1961, S. 170.
629 Die Circulare des Carl Ferdinand Stumm. Zirkular Nr. 15, 20.8.1882., S. 18 f. Aufschlussreich in die¬
sem Kontext ist darüber hinaus ein Toranschlag an die Arbeiterschaft vom 7. Oktober 1898, in dem
sämtliche Arbeiter, die außerhalb Neunkirchens wohnen, angewiesen werden, sich vor dem Besuch
ihres zuständigen Knappschaftsarztes beim Hüttenarzt in Neunkirchen zu melden. Siehe ebd., S. 66.
630 Vgl. hierzu noch einmal theoretisch Welskopp 2001, S. 103-m.
631 Zum Pendlerwesen und zum damit einhergehenden Fortwirken ländlich-agrarischer Prägungen vgl.
Küster, Thomas: Landwirtschaft und Nebenberuf um 1900. Eine Auswertung statistischer Quellen am
Beispiel Westfalens, in: Westfälische Forschungen 61 (2011), S. 125-154, hier S. 133 f. und 153 f.
632 Vgl. etwa für die Ruhrbergarbeiterschaff Tenfelde 1977, S. 323.
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