Full text: Arbeiterexistenzen und Arbeiterbewegung in den Hüttenstädten Neunkirchen, Saar und Düdelingen, Luxemburg

Viertel Italien und Schmelz scheint aber weniger dem Werkswohnungsbau geschuldet 
gewesen zu sein. Allerdings muss bei diesen beiden Vierteln erneut auf die räumliche 
Nähe zum Werk, die zugleich ein gewisses Maß an sozialer Observation und Kontrolle 
mit sich brachte, hingewiesen werden. 
Neunkirchen und Diidelingen wuchsen erst dank der industriellen Entwicklung zu 
Städten im quantitativen wie qualitativen Sinne. Die Hüttenbetriebe wirkten gleichsam 
als Motoren der Urbanisierung, indem sie zahlreiche Menschen in die vordem agrarisch 
geprägten Orte lockten. Mit dem Stadtwachstum wurde die Infrastruktur ausgebaut, 
Handel und Gewerbe erlebten einen nachhaltigen Aufschwung. Von den Hütten gin¬ 
gen damit gewaltige Vorwärtskoppelungseffekte aus. Die siedlungsbildendc Kraft der 
Unternehmen zeigte sich am plastischsten in der betrieblichen Wohnungsbaupolitik, 
die beide Werke ausgiebig forcierten. Neunkirchen behielt größenmäßig, genau wie in 
Bezug auf die Ausmaße der Hütte, die Nase vorn. Dennoch scheint es, als sei der Pro¬ 
zess der sozialen Segregation, der so typisch für wachsende Industriegemeinden war, in 
Düdelingen vor allem aufgrund der sich herausbildenden migrantisch geprägten Viertel 
etwas deutlicher ausgeprägt gewesen. Auch wenn gerade in Neunkirchen zu bedenken 
ist, dass auch viele Bergleute in der Stadt wohnten, so kann man doch beide Orte als 
Hüttenstädte bezeichnen. Die quantitative Dominanz der Hüttenarbeiter in der Sozi¬ 
alstruktur, die in Düdelingen noch virulenter war, der politische und siedlungsbildende 
Einfluss der Eisen- und Stahlbetriebe sowie die Tatsache, dass beide Unternehmen ihre 
Industrieanlagen unmittelbar im Stadtgebiet hatten, somit gewissermaßen auch in phy¬ 
sischer Hinsicht ein prägender Faktor waren, rechtfertigen diese Einschätzung. 
II Industrialisierung und Migration: Regionale Provenienz und sozio- 
kulturelles Profil der Hüttenarbeiterpopulationen 
i Industrialisierung, Migration und Arbeitergeschichte 
„Keine andere Epoche der Geschichte war in einem ähnlichen Maße wie das 19. Jahrhun¬ 
dert ein Zeitalter massenhafter Fernmigrationr366 * Mit dieser lapidaren wie zutreffenden 
Feststellung unterstreicht Jürgen Osterhammel in seiner viel beachteten Globalgeschich¬ 
te des 19. Jahrhunderts die Bedeutung massenhafter Wanderungen im Zeitalter der In¬ 
dustrialisierung. In den Blick nimmt Osterhammel dabei vor allem die oft Kontinente 
umspannenden Migrationssysteme jener Epoche, die jedoch nur eine - wenngleich viel¬ 
leicht die spektakulärste - Facette eines gleichsam ubiquitären Bevölkerungsaustausches 
bildeten. Migration war gerade während der Hochindustrialisierungsphase ein allgegen¬ 
366 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Mün¬ 
chen 2ioo9, S. 2,35. 
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