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So reicht der letzte einigermaßen selbständige Bearbeiter des Stoffes
in der erzählenden Dichtung — das hiltlsche „Hofgeheimnis" (1873)96)
ist eine bloße Kompilation — dem ersten über die Kluft von zwei Jahr¬
hunderten die Hand.
Wenn sich auch unter sämtlichen Bearbeitungen, wie wir sahen,
kein Kunstwerk befindet, so zeigen sich doch einige verheißungsvolle An¬
sätze dazu.
Vorzüglich bei Vacano und lvorosdar.
Vacano erschaute mit dem Zeherblick des Dichters — wie vor ihm
Schiller — in der Gesamtheit, wie sie die kritische Forschung unserer
Zeit zu Tage förderte, die Faktoren der Umwelt, die ihrerseits das
Schicksal Sophie Dorotheas bestimmten, ohne freilich imstande zu sein,
eine tiefere Beziehung herzustellen. Tr erschaute diese Motive, da es
ihm gegeben war, das Milieu des kleinen deutschen Fürstenhofes lebhaft
zu empfinden, der sich bemühte, in allen Stücken die Manieren des
glänzenden französischen Hofes en miniature nachzuahmen.^) Des
Hofes Louis' XIV., der „personifizierten Konvention" 9a), mit all seiner
prunkenden Äußerlichkeit und seiner inneren Hohlheit, mit seinen raffi¬
nierten politischen Schachzügen und seiner hochausgebildeten Intriguen-
kunst. Freilich fährt nicht aus diesen weltgeschichtlichen Gewitterwolken,
die Vacano nur zu sammeln verstand, ein Blitz hernieder und fällt ein
armes Menschenkind, sondern ein Dachziegel, von Menschenhand ge¬
schleudert, übernimmt die Funktion des Clements. —
Diesem Dichter kam lvowsdar weit voraus, indem er im Dienste
einer einheitlichen führenden Idee die glücklich, aber nicht so völlig wie
vom Vorigen, erfaßten Motive verwandle.
In der Idee dauert denn auch Ivorosdars Dichtung.
Die Form ist dem Schicksal der Zeitlichkeit und der mangelnden
Fähigkeit verfallen.
Indessen zeigt das Beispiel dieses Dichters, daß der Stoff: „Die
Prinzessin von Bhlden und Graf Königsmark" in der erzählenden Dich¬
tung einer Verklärung zum Kunstwerk wohl fähig wäre, fände er den
rechten Meister.