502
Kap. VIII. § 201.
Ost und West, denn in diesem Letzten erweisen sich alle
großen Religionen, in der Tiefe begriffen, durchaus einig,
wenn auch jede dieselbe große Grundwahrheit vorzugsweise
nach einer Seite am lebendigsten in sich empfindet und dar¬
stellt. Diese gemeinsame Grundwahrheit ist: Glauben an Er¬
lösung, nicht für den Einzelnen allein, der bloß für sich zur
Vollendung strebt und sie in irgendeinem Sinne vielleicht
auch erreicht; sondern für alle; Erlösung nicht durch Flucht
vor dem Widerspruch und Streit der Welt zur unerschütter¬
lichen Ruhe des Ewigen, so wenig wie durch haltlose Hingabe
an das tosende Meer der Zeit. Das eine wie das andere wäre
nicht Überwindung. Man macht so die Welt selbst entweder
zum Gott oder zum Widergott. Aber sie ist nicht Gott und ist
auch nicht eine Macht außer ihm, die ihm ewig zu wider¬
stehen und gar sein Reich streitig zu machen vermöchte oder
es zurückzudrängen auf eine einsame Insel, zu der aus dem
wildwütenden Meer sich zu retten nun für das endliche Ge¬
schöpf in seinem Schiffbruch das einzige Heil wäre. Sondern
sie selbst, die Welt, alles Geschaffene, ist Gott, ewig von ihm
überwunden, gerichtet und freigesprochen; gerichtet in seinem
erträumten Losriß von ihm, gerettet und freigesprochen in
seinem Erwachen aus dem lähmenden Traum. Gerettet und
freigesprochen, denn Gottes Gericht ist Freispruch, ist Be¬
gnadigung des Besiegten, eine Begnadigung, in der der Schul¬
digspruch nicht zurückgenommen, aber der Fluch der Schuld
getilgt ist. Unter keinem andern Glauben werden Menschen
Brüder, weil Kinder des einen Vaters; und als Brüder auch
Gleiche und Freie. Unter keinem andern Zeichen gab es je
ein wahrhaftes Leben des Menschen auf Erden, als Gottes¬
kindes; gab es Menschengemeinschaft, gab es Menschheit
und Volk, gab es einen Staat, eine Gesellschaft, die ein
Staat, eine Gesellschaft von Menschen genannt zu werden
verdient; so wie es unter keinem andern Zeichen überhaupt
den Menschen, auch als Individuum, gibt. Dieser Glaube,