Full text: Vorlesungen über praktische Philosophie

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Kap. VIII. § 201. 
Ost und West, denn in diesem Letzten erweisen sich alle 
großen Religionen, in der Tiefe begriffen, durchaus einig, 
wenn auch jede dieselbe große Grundwahrheit vorzugsweise 
nach einer Seite am lebendigsten in sich empfindet und dar¬ 
stellt. Diese gemeinsame Grundwahrheit ist: Glauben an Er¬ 
lösung, nicht für den Einzelnen allein, der bloß für sich zur 
Vollendung strebt und sie in irgendeinem Sinne vielleicht 
auch erreicht; sondern für alle; Erlösung nicht durch Flucht 
vor dem Widerspruch und Streit der Welt zur unerschütter¬ 
lichen Ruhe des Ewigen, so wenig wie durch haltlose Hingabe 
an das tosende Meer der Zeit. Das eine wie das andere wäre 
nicht Überwindung. Man macht so die Welt selbst entweder 
zum Gott oder zum Widergott. Aber sie ist nicht Gott und ist 
auch nicht eine Macht außer ihm, die ihm ewig zu wider¬ 
stehen und gar sein Reich streitig zu machen vermöchte oder 
es zurückzudrängen auf eine einsame Insel, zu der aus dem 
wildwütenden Meer sich zu retten nun für das endliche Ge¬ 
schöpf in seinem Schiffbruch das einzige Heil wäre. Sondern 
sie selbst, die Welt, alles Geschaffene, ist Gott, ewig von ihm 
überwunden, gerichtet und freigesprochen; gerichtet in seinem 
erträumten Losriß von ihm, gerettet und freigesprochen in 
seinem Erwachen aus dem lähmenden Traum. Gerettet und 
freigesprochen, denn Gottes Gericht ist Freispruch, ist Be¬ 
gnadigung des Besiegten, eine Begnadigung, in der der Schul¬ 
digspruch nicht zurückgenommen, aber der Fluch der Schuld 
getilgt ist. Unter keinem andern Glauben werden Menschen 
Brüder, weil Kinder des einen Vaters; und als Brüder auch 
Gleiche und Freie. Unter keinem andern Zeichen gab es je 
ein wahrhaftes Leben des Menschen auf Erden, als Gottes¬ 
kindes; gab es Menschengemeinschaft, gab es Menschheit 
und Volk, gab es einen Staat, eine Gesellschaft, die ein 
Staat, eine Gesellschaft von Menschen genannt zu werden 
verdient; so wie es unter keinem andern Zeichen überhaupt 
den Menschen, auch als Individuum, gibt. Dieser Glaube,
	        
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