Kap. VI. § 114.
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Seins schien, dennoch ein Sein, ein gleichfalls sicher bestimm¬
ter, aber eben eigener Seinssinn zukommt, nämlich jener, den
auch wir, wesentlich nach Plato, bestimmt haben als das Sein
der Schwebe, des Zwischen, des Übergangs von Seinsbe¬
stimmtheit zu Seinsbestimmtheit, mit den charakteristischen
Merkmalen der Unendlichkeit und Stetigkeit. Das sind tiefe,
bleibende Entdeckungen ; aber sie geben noch keine letzte Ant¬
wort auf unsere Frage, worauf denn schließlich diese Unerfaß-
lichkeit, worauf diese unüberwindliche Paradoxie, diese Wun-
derhaftigkeit des Werdens beruht.
§ 114. Nun, etwas anderes gibt es hier wohl nicht als die
Anerkennung des schlichten Faktums. So, und nur damit
ist die Welt, ist überhaupt irgend etwas ; denn es verhält
sich wirklich nicht so (wie es noch bei Plato, auch in seiner
Spätzeit, namentlich im Timäus, der gerade von der Welt¬
schöpfung handelt, sich darstellt) : als gäbe es nur einerseits
ein Sein, dem alles Werden fremd, und käme dann, als etwas
von diesem aus ganz unbegreifliches Neues, das Werden hin¬
zu, welches dann unter das Gebot des Seins sich doch, aber
zuletzt nur unzureichend, nie restlos, zwingen ließe und mit
einer letzten Eigengesetzlichkeit der àvâyxrj, einem nur
passiv, schicksalhaft gedachten Trägheitswiderstand, diesem
Zwang widerstrebte; ein letzter Dualismus, den nicht nur
Plato, sondern den noch das ganze Mittelalter nicht über¬
wunden hat. Hat denn die neue Zeit ihn wirklich und restlos
überwunden ? Bisher jedenfalls nicht. Z. B. noch in Kants
Scheidung von Ansichsein und Erscheinung, Phänomenon
und Noumenon (mundus sensibilis und intelligibilis), welche
Begriffe ja deutlich dem alten Platonismus entstammen,
verraten sich die Spuren dieses überhaupt uralten und allzu
natürlichen Dualismus. Doch ist er dem Prinzip nach über¬
wunden, sobald begriffen ist, daß das bloße Kategoriale
selbst nur ein Durchschnitt aus der in Wirklichkeit doch
einen Welt ist, die wahrlich nicht bloß kategorial ist, son-