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Kap. IV. § 65.
bescheidung nicht verstattet; sie hat geradezu die Verpflich¬
tung, an keiner endlich erreichbaren Einstimmigkeit sich
genügen zu lassen. Aber sollte sie darum, was von Einstim¬
migkeit erreichbar ist, verwerfen oder verachten? Aber da
wäre mit Recht zu antworten: Wer nicht im Kleinen getreu
ist, wird auch des Größeren nicht teilhaft werden.
Wer der Forderung der Rationalität im Praktischen gram
ist, der ist sich eben einseitig nur des einen Faktors, dessen,
wohin das Streben geht (nämlich auf die überendliche Ein¬
heit), positiv bewußt, als dessen, was für das Streben unbe¬
dingt beherrschend und bestimmend sein müsse. Der End¬
lichkeit und ihres Widerspruchs, welcher dem Zuge dahin
widerstrebt, ist man sich dann zwar auch, aber nach der ne¬
gativen Seite bewußt, als dessen, dem man entfliehen, von
dem man sich losmachen müsse. Aber damit kommt das
Streben und Sollen in Gefahr, ganz den Grund und Boden
unter den Füßen zu verlieren. Es fehlt dann an dem, dem es
gebietet; es fehlt an dem, was soll. Man wird aber die End¬
lichkeit nicht damit los, daß man vor ihr flieht; sie setzt dem
Fliehenden nach und ereilt ihn doch. Selbst in der Endlich¬
keit stehend, muß er sich dem Kampfe mit ihr stellen.
Würde er sich dem entziehen, so würde er damit wahrlich
nicht ihr Besieger, sondern ihr Besiegter. Stellt er sich aber
dem Gegner, nimmt er den Kampf mit ihm furchtlos auf,
dann ist es wenigstens möglich, daß er den Sieg erstreitet,
oder wenn das nicht, vielleicht einen ehrenvollen Verstän¬
digungsfrieden mit ihm schließen darf — oder es bleibt ihm
wenigstens das Letzte: mit Ehren zu fallen.
Wie wäre denn hier ein Ausgleich denkbar? Einzig so,
daß jedes zu seinem Recht kommt: als Grund- und Nullpunkt
(wie schon gesagt) bleibt stehen die Tatsächlichkeit des
Werdens und in ihm des Widerspruchs, mit der Forderung
aber seiner Überwindung zur Rationalität; insofern gilt das
Gesetz der Ratio durchaus auch für die Praxis, sofern sie im