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Mythus und Kultur
keiten verkannt werden, die der Geburt und der Durch¬
setzung des notwendig gewordenen neuen religiösen
Mythus in der heutigen Weltlage im Wege stehen.
Wie wird sich seine Auseinandersetzung mit dem ver¬
wissenschaftlichten Geist unserer Kultur, d. h. sein
Verhältnis zum „Logos“ gestalten ? „Ohne Logos
kann eine große religiöse Lebenswelt ebensowenig
bestehen wie ohne Mythos,“ sagt Ernst Troeltsch,
der der Spannung zwischen Denken und Leben, Syste¬
matik und Geschichte, Logos und Mythos, wie über¬
haupt der religiösen Problematik unserer Tage tiefst-
greifende Überlegungen gewidmet hat (vgl. u. a. die
grundlegende Abhandlung «Logos und Mythos in
Theologie und Religionsphiiosophie»; abgedruckt in
Gesammelte Schriften, 2. Band: «Zur religiösen Lage,
Religionsphilosophie und Ethik» S. 805ff.). Ferner:
Welche Momente werden in den neuen Mythus aus
dem Christentum einfließen, und welche Rolle wird
und kann überhaupt bei seiner Entstehung und Ver¬
breitung das Christentum spielen ? Die Zukunft des
Christentums, d. h. Art und Grad seiner Beteiligung an
der werdenden Kultur sind in den letzten Jahren mit
begreiflicher Lebhaftigkeit erörtert worden.
- Aber sowohl hier als bei der zuerst aufgeworfenen
Frage läßt sich mit rein wissenschaftlichen Mitteln
eine Entscheidung nicht fällen (so auch Troeltsch,
u. a. S. 824). Alle derartigen Erörterungen würden wie
eine Voraussage der Zukunft erscheinen. Erstens aber
kann die Vorherbestimmung zukünftigen Geschehens
nicht als eine wissenschaftlich mögliche oder zulässige
Aufgabe gelten. Zweitens würde das Genie, das uns
den erhofften religiösen Mythus brächte, alle Voraus¬
sagen, mögen sie noch so umsichtig vorgenommen
sein, über den Haufen werfen. Denn es schöpft aus
Tiefen des Lebens und Erlebens, die jenseits der
wissenschaftlichen Erfassung liegen.