Full text: Mythus und Kultur

Unsere Zeit und das Problem des Mythus 65 
tualisierungsprozeß hindurchgegangene Menschen des 
19. und 20. Jahrhunderts darnach, uns diese Form 
der Realität durch gelehrte Forschung zu verdeut¬ 
lichen. Wir tun das mit den Mitteln derjenigen 
Wissenschaften, die in diesen Zeiten zu so starker 
Ausbildung und so hohem Ansehen gekommen sind, 
der historischen Kritik und der Psychologie. Dadurch 
aber werden die Objektivität und die Realität auch 
des Mythus in Verbindung mit der menschlichen Sub¬ 
jektivität gebracht und von dieser abhängig gemacht. 
Von hier aus erscheint der Mythus als eine willkürliche, 
biologisch und utilitaristisch begründete Schöpfung 
subjektiven Beliebens, als eine Fiktion. Diese Er¬ 
kenntnis seines Wesens, wie sie etwa durch die histo¬ 
rischen Schulen und durch Ludwig Feuerbachs 
bahnbrechende anthropologische Untersuchung der 
Religion vorgenommen worden sei, so könnten die 
Vertreter dieser positivistisch-naturwissenschaftlichen 
Beweisführung sagen, hat sich in unwiderstehlicher 
Ausbreitung der Allgemeinheit mitgeteilt, die in ihrer 
Geistesverfassung nun in das Zeitalter des Positivis¬ 
mus eingetreten sei, um mit Auguste Comte zu 
sprechen. 
Im engsten Zusammenhang mit dieser, unter natur¬ 
wissenschaftlicher Führung vollzogenen Rationali¬ 
sierung des modernen Zeitbewußtseins steht nun, so 
könnte weiter eingewendet werden, der zweite Gegen¬ 
grund gegen die Möglichkeit eines Mythus für unsere 
Tage. Der Fortschritt der wissenschaftlichen For¬ 
schung hat uns die gesamte Wirklichkeit immer mehr 
als eine nach festen Gesetzen aufgebaute Einheit er¬ 
kennen gelehrt, die — ihrer erkenntnistheoretischen 
Begründung nach — in den kategorialen Formen des 
Verstandes ihre Voraussetzungen habe. Der Begriff 
der Gesetzlichkeit sei das Losungswort für alles 
wissenschaftliche Verfahren geworden, ganz gleich, 
Liebert, Mythus und Kultur. 5
	        
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