Unsere Zeit und das Problem des Mythus.
Verfügt nun auch unsere Zeit über einen für sie
charakteristischen oder überhaupt über einen
Mythus ?
Auf Grund der vorstehenden Ausführungen, die die
Unentbehrlichkeit des Mythus für jede Kulturperiode,
sogar für jeden Lebenszusammenhang darzutun und
die inneren Bedingungen für diese Unentbehrlichkeit
aufzudecken versuchten, müssen wir diese Frage be¬
jahen. Wie könnte sonst die Gegenwart vordem Richter¬
stuhl der Geschichte bestehen ? Wie könnte sie ferner
überhaupt ein geschichtlichesDasein führen unddie
Eigenart dieses Daseins bekunden ? Bedarf doch das
Geschichtliche in jeder seiner Spielarten der Wert-
bezogenheit auf eine Norm, auf einen absoluten, meta¬
physischen Geltungssinn. Und ein solcher verkörpert
sich in einem Mythus. Ja, wie wäre es sonst möglich,
ihr Wesen zu erfassen und über sie eine Erkenntnis
auszusprechen, ganz gleich in welchem Geiste dies
geschähe, und ob man ihr den Aufstieg oder den Unter¬
gang prophezeie? Denn jede einzelne in ihr auf¬
tretende Erscheinung und Erscheinungsgruppe läßt
sich, je nach der Gesinnungsweise und dem Tempera¬
ment des Deutenden, nach dieser oder jener Richtung
auslegen. In bezug auf das Einzelne bleibt der Willkür
der Auffassung ein ziemlich erheblicher Spielraum.
Nicht aber in bezug auf die Ganzheit, auf die innere
Totalität. Diese innere Totalität erschließt sich je¬
doch dann, wenn es gelingt, denjenigen Grundmythus
zu bestimmen, an dem sich die Gesamtstruktur unserer