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Mythus und Kultur
lassen. So ist es mit jedem wahren Kunstwerk, in dem
jedes, als ob eine Unendlichkeit von Absichten darin
wäre, einer unendlichen Auslegung fähig ist, wobei
man doch nie sagen kann, ob diese Unendlichkeit im
Künstler selbst gelegen habe oder aber bloß im Kunst¬
werke liege.“ Und wenige Seiten später: „Es ist nichts
im Kunstwerk, was nicht ein Unendliches unmittelbar
oder wenigstens im Reflex darstellt.“ —
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D.
Indem die mythische Verabsolutierung der
Kunst seitens der Romantik durch das Be¬
dürfnis nach einem Symbol für das Erlebnis über¬
rationaler Tiefe entsteht, ist nun auch der zweite große,
für sie charakteristische Mythus gegeben, der von
der Religion. Wären für die Romantik die Grenzen
zwischen Kunst und Religion nicht so fließend, ginge
nicht durch die Vermittlung der Idee der Unendlich¬
keit ein Gebiet notwendig und organisch in das andere
über, so könnte der Zweifel entstehen, welcher Mythus,
der der Kunst oder der der Religion, von ausschlag¬
gebender Bedeutung für sie sei. Jedenfalls hat ihr
Mythus von der Kunst entschieden religiöse Färbung
und ihr Mythus von der Religion künstlerische Fär¬
bung. So wird es verständlich, daß trotz und neben
aller Verabsolutierung der Kunst und der Lobpreisung
ihres Unendlichkeits- und Ewigkeitscharakters Wil¬
helm Schlegel in den Vorlesungen «Über drama¬
tische Kunst und Literatur» sagen kann: „Die Religion
ist die Wurzel des menschlichen Daseins. Wäre es dem
Menschen möglich, alle Religion, auch die unbewußte
und unwillkürliche zu verleugnen, so würde er ganz
Oberfläche werden und kein Inneres mehr haben.
Wenn dieses Zentrum verrückt wird, so muß sich