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Mythus und Kultur
einen tiefsten Sinnquell, aus dem wir die Gewähr
schöpfen, daß wir noch einer anderen Welt als Bürger
zugehören. Und zugleich liegt hier der Punkt, an
dem der religiöse Unterton und die religiösen Antriebe
der Kantischen Ethik deutlich werden. Da, wo die
Philosophie Kants bis zu den Tiefen der Religion vor¬
dringt, da gestaltet sie sich zu einem herrlichen und
erlösenden Mythus. Hier versagt alle begriffliche Klar¬
legung und Auseinandersetzung. Hier steigt die philo¬
sophische Konstruktion bis zu den ewigen Urgründen
alles Seins hinab, die wir nur noch in schweigender Dank¬
barkeit verehren und andeuten, aber nicht mehr mittels
einer festen rationalen Theorie ausdeuten können.
In der Kantischen Freiheitslehre erfassen wir jedoch
nicht nur die tiefste Schicht des Kantischen Denkens
und die innerlichste, aber eben doch mythische Vor¬
aussetzung seines ganzen Philosophierens, sondern
dieser Teil seines Systems, der sozusagen die konstruk¬
tive Grundlage des ganzen Systems bildet, übte zu¬
gleich und übt unaufhörlich den durchgreifenden er¬
zieherischsten Einfluß auf die folgenden Geschlechter
in Theorie und Praxis aus. Was Kant wirklich be¬
deutet, das erfahren wir erst, wenn wir einmal alle
Äußerlichkeiten und Nebensächlichkeiten und alle
Einzelheiten seiner Leistung außer Acht lassen, bei
rückhaltloser Vertiefung in den metaphysischen Sinn
seiner Freiheitslehre. Bei diesem Erleben jedoch ver¬
gessen wir die geschichtliche Persönlichkeit Kants,
werden uns die geschichtlichen Einzelumstände seines
empirischen Wesens und Wirkens unwesentlich. Im¬
manuel Kant selber reckt sich empor zur gigantischen
Höhe eines Mythus, gleich Mose und Zoroaster, gleich
Buddha und Jesus, gleich Sokrates und Plato. An
seiner Lehre befreien wir uns, gestalten wir uns, wie
wir uns an jedem wahren Mythus befreien und ge¬
stalten. Denn im Mythus treten wir hinaus über die