42
Mythus und Kultur
empirischen Bestand nach ist, und als was sie er¬
scheint, an ihr geschätzt und beachtet wird, sondern
weil sich vermittels jener Auslegung in ihr die Vernunft
des Absoluten und das Absolute der Vernunft in eine
der ihnen möglichen Strahlungen spiegelt. So inter¬
essiert keineswegs lediglich der Tatbestand der Lehre
Kants selber. Dieser Tatbestand erlaubt, ja er fordert
geradezu wegen seiner unvergleichlich verwickelten
Struktur, wegen der Mannigfaltigkeit seiner systema¬
tischen und geschichtlichen Voraussetzungen und Mo¬
tive schon von sich aus eine Vielheit von Deutungen.
Ferner verschwistert sich mit dieser Möglichkeit die
ganze Fülle hermeneutisch zulässiger Standpunkte, die
ein Ausdruck der Verschiedenartigkeit des Weltgefühls
der an der Auslegungbeteiligten Zeiten und Menschen ist.
Und indem diese Verschiedenartigkeiten in die
Formen des Begriffes eingehen, erwachsen die Mythen
von Kant und seiner Philosophie. Die Ent¬
stehung der zahlreichen Kantischen Schulen erklärt
sich nicht nur daraus, daß aus dem höchst verschlun¬
genen Bau des Kantischen Systems von diesem die
eine, von einem anderen eine andere Tendenz und
Linienführung herausgelesen und herausgehoben und
zur Entwicklung gebracht wurde, sondern der Geist
der Arbeit an Kant und die Versuche um Fortbildung
der kritischen Philosophie unterstanden und unter¬
stehen zugleich eigentümlichen Gesichtspunkten und
Betrachtungsweisen, die sich aus der wissenschaft¬
lichen Bildung, der metaphysischen Gesinnung, der
Zugehörigkeit zu bestimmten Zweigen und Forschungs¬
richtungen der Wissenschaft, aus der Persönlichkeit
und Begabungsart des betreffenden Interpreten und
Weiterbilders ergeben. Die Entwicklung der Philo¬
sophie Kants im 19. Jahrhundert verfolgen, heißt
nicht nur, den in jener Philosophie gelegenen sach¬
lichen Tendenzen nachgehen und die systematische