Die allgemeine Bedeutung des Mythus 19
Bildung eines Mythus entrinnen will. Jene für alle
Kultur schicksalshafte Wendung des Geisteslebens
bedeutet vielmehr, daß man sich des Absoluten in der
Form des Mythus wieder bemächtigt.
Denn der Mythus ist in allen Kulturen der Weg, auf
dem der Menschengeist zum Absoluten emporsteigt.
Er mythologisiert also so wenig das Absolute, daß viel¬
mehr umgekehrt dieses geradezu seine Voraussetzung
abgibt, daß seine Realität es ist, die die Bedingung-
aller Mythen darstellt. Der Wahrheits- und Geltungs¬
wert und der Sinn aller Mythen und das menschliche
Suchen nach ihnen hängen ab von der Realität des
Absoluten. Nur ein in einem extrem-einseitigen und
doktrinären Empirismus und Positivismus befangenes
Zeitalter oder Geschlecht verwässert die Idee des Ab¬
soluten zu einer Fiktion, verkleinert sie zu einer sub¬
jektiven Glaubensvorstellung oder Einbildung, die
durch den Fortschritt der Aufklärung und Intellek-
tualität angeblich aus der Welt geschafft werden
würde. Es sieht nicht, daß es ebenso wie jeder andere
Abschnitt des Geisteslebens mit einem Mythus ar¬
beitet. So ist auch umgekehrt nicht etwa einem sich
in starker Gläubigkeit bewegenden Zeitalter oder Ge¬
schlecht die Pflege und Bewahrung des Mythus aus¬
schließlich Vorbehalten, als besitze es ihn als ein nur
ihm unantastbar eigentümliches Vorbehaltsgut.
Alle Züge und Schichten, alle Richtungen und Ge¬
stalten der Kultur sind von Mythen erfüllt und um¬
rankt, und es ist einfach ein Vorurteil oder ein
Mißverständnis, ihre Existenz gewissen Stufen und
Abschnitten der geschichtlichen Entwicklung abzu¬
sprechen. Ohne Mythus würde eine Kultur eine ihr
wesentliche Bedingung verlieren, weil ihr dadurch der
unanfechtbar notwendige Weg der Herstellung des
Verhältnisses zu einem Absoluten fehlen würde. Auch
der Rationalismus hat in sich einen deutlich erkenn¬
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