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Mythus und Kultur
enthält das Recht ihres Verfalls, wenn dieser anti¬
nomische Dualismus verleugnet, wenn ein voller Ab¬
fall von jeder Art und Gestalt der Absolutheit und
der Norm vollzogen wird, wenn sie jenseits ihrer selbst
keine Aufgaben und Sinnbezüge anerkennt oder auch
nur sieht. “
li.
Die Mittel und Wege zu dieser unbedingt notwen¬
digen Transzendenz sind die großen Mythen, die
in jeder Kultur und in jedem Abschnitt einer Kultur
auf treten. Ganz gleich ob es sich um künstlerische oder
religiöse, um wissenschaftliche oder philosophische
Mythen handelt: Ohne sie ist die Erhebung des Lebens
zu einem „Mehr-als-Leben“ wie Georg Simmel geist¬
voll sagte, unerreichbar. Ohne Mythen geht das Leben
in seiner Oberfläche und in seiner eigenen Fron unter.
Die unmittelbar hinter uns liegenden Jahrzehnte be¬
fanden sich in dem überheblichen Wahn und vertraten
ihn in ihrer ,Aufgeklärtheit4, daß sie ohne Mythen
auskommen konnten; sie glaubten und gaben vor, ihre
Wissenschaften machten jeden Mythus entbehrlich
und nähmen ihm sein Daseinsrecht und seine Daseins¬
möglichkeit. Daraus ergab sich eine peinvolle, aber
doch begreifliche Rückwirkung auf unsere Stimmung
und auf unsere Einstellung zum Leben und zu seinen
Forderungen. Wir mußten nämlich in die Einbildung
geraten, dem geistigen und seelischen Untergang ret¬
tungslos verfallen zu sein. Und zwar darum, weil alles
geschichtliche Dasein seinen Halt und seine ideelle
Sicherung, seine Kraft und die Überzeugungen, mit
den ihm gestellten Aufgaben fertig zu werden, nur aus
einem Überhistorischen zieht. Die Verdichtung
des Überhistorischen und Metaphysischen zu
weltanschaulicher Gestalt vollzieht sich aber
im Mythus. Und so erreicht in den Formen des