X.
Hume1
(1711—1776).
S. 197 Manche behaupten, Tugend sei nichts anderes als Über¬
einstimmung mit der Vernunft; es gäbe ewig gültige
Unterschiede des Seinsollenden und Nichtseinsollenden
in den Dingen, die für jedes vernünftige Wesen, das über
sie nachdenke, dieselben seien .. . Um über diese Ansich¬
ten zu urteilen, brauchen wir nur zu erwägen, ob es mög¬
lich ist, das sittlich Gute und das sittlich Böse allein durch
die Vernunft zu unterscheiden, oder ob noch andere
Erkenntnisgründe hinzukommen müssen.
Dies wird denn auch durch die allgemeine Erfahrung
bestätigt. Denn diese lehrt uns, daß Menschen oft durch
ihr Pflichtgefühl beherrscht, daß sie von Handlungen
zurückgehalten werden, weil sie dieselben für unrecht
ansehen und das Gefühl der Verpflichtung sie zu anderen
Handlungen antreibt. Aus diesem zweifellosen Einfluß
der Sittlichkeit auf unsere Handlungen und Neigungen
nun folgt, daß dieselbe nicht aus der Vernunft hergeleitet
werden kann, da ja die Vernunft allein . . . niemals einen
solchen Einfluß haben kann.
S. 212 Unsere Entscheidungen über das Sittlich Richtige und
das sittlich Verwerfliche sind zweifellos Perceptionen;
alle Perceptionen aber sind entweder Eindrücke oder
Vorstellungen; sind also jene Unterscheidungen nicht
der ersteren Art, so gehören sie notwendig zur letzteren
Gattung. Sittlichkeit wird also vielmehr gefühlt als
beurteilt.
...Die nächste Frage ist: Welcher Art sind diese
Eindrücke und auf welche Weise wirken sie auf uns?
Hier können wir nicht lange zaudern; wir müssen den
1 Abdruck aus „Abhandlung über die menschliche Natur“
III. Buch: Über Moral. Herausgegeben von Theodor Lipps,
Leipzig 1906.
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