III.
Seneka1
(4?—65 n. Chr.).
„Aber auch du," wendet man ein, „befleißigst dich der
Tugend nur darum, weil du von ihr irgendein Vergnügen
hoffest." — Für’s erste, wenn die Tugend je ein Ver¬
gnügen gewähren wird, so folgt daraus nicht, daß man
ihr um deswillen nachstrebt. Man muß nicht sagen, sie
gewährt Vergnügen, sondern sie gewährt es mit, denn es ist
ihr bei ihrem Bestreben nicht darum zu tun, sondern das
Bemühen um sie, wenn es gleich dabei auf etwas anderes
abgesehen ist, wird jenes zugleich mit erreichen. So wie
auf einem Gefilde, das man für die Saat ausgepfftgt hat,
diese oder jene Blumen mit aufwachsen, ohne daß man
diesen Pflänzlein zuliebe, obwohl sie das Auge ergötzen,
soviel Arbeit aufgewendet hat, die Absicht des Sämannes
war eine andere, das ist nur dazu gekommen: also ist
auch das Vergnügen nicht der Lohn, noch der Beweggrund
zur Tugend, sondern eine Zugabe; und man hat nicht
Wohlgefallen an ihr, weil sie ergötzt, sondern, weil man
Wohlgefallen an ihr hat, so ergötzt sie. Das höchste Gut
liegt im Innersten des Bewußtseins und in dem Wesen
einer edlen Seele, und wenn diese ihre Bahn vollendet
und sich in ihre Sphäre eingeschlossen hat, so ist das
höchste Gut errungen und sie will weiter nichts mehr. —
Über das hinaus, was das Ganze ist, gibt es nichts, so
wenig, als etwas, das über das Ende hinausgeht. Darum
bist du schon irre, wenn du fragst, was es sei, weshalb
ich mir die Tugend zum Ziele setze. Da fragst du ja nach
etwas, das über den Höhen stände. — Was ich Gewinn
wolle von der Tugend, fragst du? Sie selbst. Hat sie
doch nichts Besseres, denn sie ist sich selbst ihr Preis. —
Oder ist das etwa nicht herrlich genug? Wenn ich dir
1 Abgedruckt aus „Vom glückseligen Leben“, Kap. 9—11.
Herausgegeben von Alexander von Gleichen-Rußwurm. Deutsche
Bibliothek, Berlin.
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