XX.
Nietzsche
(1844—1900).
Was ist vornehm?1
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s 235—243 Jede Erhöhung des Typus „Mensch“ war bisher das
Werk einer aristokratischen Gesellschaft — und so wird
es immer wieder sein: als einer Gesellschaft, welche an
eine lange Leiter der Rangordnung und Wertverschie¬
denheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei
in irgendeinem Sinne nötig hat. Ohne das Pathos
der Distanz, wie es aus dem eingefleischten Unter¬
schiede der Stände, aus dem beständigen Ausblick und
Herabblick der herrschenden Kaste auf Untertänige
und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung
im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten er¬
wächst, könnte auch jenes andere geheimnisvollere Pathos
gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer
Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Her¬
ausbildung immer höherer, seltenerer, fernerer, weitge¬
spannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Er¬
höhung des Typus „Mensch“, die fortgesetzte „Selbst¬
überwindung des Menschen“, um eine moralische Formel
in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. Freilich:
man darf sich über die Entstehungsgeschichte einer aristo¬
kratischen Gesellschaft (also der Voraussetzung jener Er¬
höhung des Typus „Mensch“ —) keinen humanitären
Täuschungen hingeben: die Wahrheit ist hart. Sagen wir
es uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Kultur
auf Erden angefangen hat! Menschen mit einer noch
natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Ver¬
stände des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz un-
1 Abdruck aus der Schrift: „Jenseits von Gut und Böse."
Werke I. Abt. Bd. VII. S. 235—243. Stuttgart, Verlag Alfred
Kröner, 1902.
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