Sokr. Ist nun nicht in unserer Untersuchung die
Vernunft wie die Lust alles Anspruches darauf verlustig
gegangen, daß eines von beiden das Gute sei, da sie ja
beide der Selbstgenügsamkeit entbehren und der Fähig¬
keit, das Zulängliche und Vollendete zu leisten ?
Prot. Sehr richtig.
Sokr. Da nun ein anderes, Drittes auftauchte, das
jedem von beiden überlegen war, hat sich nunmehr ge¬
zeigt, daß die Vernunft diesem den Sieg davon tragen den
Ideal tausendmal näher zugehörig und verwandt ist als
die Lust.
Prot. Sicherlich.
Sokr. Also der Entscheidung zufolge, die sich jetzt
aus der Untersuchung ergeben hat, käme die Lust ihrem
Werte nach an die fünfte Stelle.
Prot. So scheint es.
Sokr. An die erste aber nimmermehr, selbst wenn
alle Stiere und Pferde und alle anderen Tiere es laut
fordern dadurch, daß sie der Lust nachjagen. Ihnen nun
schenken die meisten, wie Wahrsager den Vögeln, Glauben
und erklären demnach, das Ausschlaggebende für ein
glückliches Leben seien für uns die Lüste; und die Liebes-
begierden der Tiere erscheinen ihnen als vollgültigere
Zeugen dafür als die (Liebesbegierden) derer, die in philo¬
sophischer Musentätigkeit ihre Aussprüche immer nach
Maßgabe des Verstandes geben.
Prot. Wir alle erklären dir jetzt, Sokrates, daß du
die volle Wahrheit gesagt hast.
Dialog: Gorgias.
Dreiundzwanzigstes Kapitel.
S. 61/62 Sokrates. Wie meinst du also ? Wollen die Menschen
in jedem einzelnen Falle das, was sie tun, oder vielmehr
das, um des willen sie das tun, was sie tun ?
Polos. Offenbar das letztere.
Sokrates. Und auch bei denen, die auf See fahren
oder irgendeinem anderen Erwerb nachgehen, ist nicht
das, was sie jedesmal tun, das eigentlich von ihnen Ge¬
wollte. Denn wer will auf der See fahren und Gefahren
bestehen und Bedrängnisse auf sich nehmen ?
Polos. Allerdings.
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