sinnlichen Begierden gibt es schwächere und heftigere,
grenzen einige mehr, andere weniger an das Unsinnliche.
Ihr wohltätiger Einfluß, aber auch die damit verbundene
Gefahr wächst immer im Verhältnisse ihrer Heftigkeit
und ihrer Verwandtschaft mit dem Unsinnlichen. Daher
muß unter allen auf der einen Seite am meisten gehegt,
auf der anderen am sorgsamsten bewacht werden die
Begierde, um wieder mit Plato zu reden, das Schöne im
Schönen zu erzeugen.
Ausbildung und Verfeinerung muß das bloß sinnliche
Gefühl erhalten durch das Ästhetische. Hier beginnt das
Gebiet der Kunst, und ihr Einfluß auf Bildung und
Moralität. Nichts ist von so ausgebreiteter Wirkung auf
den ganzen Charakter, als der Ausdruck des Unsinn¬
lichen im Sinnlichen, des Erhabenen, des Einfachen, des
Schönen in allen Produkten der Kunst, die uns umgeben.
Das, was wir Geschmack nennen, bringt in alle unsere,
auch bloß geistigen Empfindungen und Neigungen so
etwas Gemäßigtes, Gehaltenes, Harmonisches, auf einen
Punkt hin Gerichtetes. Wo dieser Geschmack jehlt, da
ist die sinnliche Begierde roh und ungebändigt, da ist
jede andere Geisteskultur tot und unfruchtbar, da haben
selbst wissenschaftliche Untersuchungen vielleicht Scharf¬
sinn und Tiefsinn, aber nicht Feinheit, nicht Politur, nicht
Fruchtbarkeit in der Anwendung. Das Gefühl des Schö¬
nen zu erzeugen, zu nähren ist Bestimmung der Kunst.
So ist der Zweck aller Kunst moralisch im höchsten Ver¬
stände des Worts. Oft hat man diesen Satz mißver¬
standen, geglaubt, jedes Produkt der Kunst müßte darum
irgend eine Lehre einschärfen, irgend eine Empfindung
rege machen, die unmittelbar auf tugendhafte Hand¬
lungen führte; jedes Produkt, das diesen Zweck nicht
beabsichtigt, unnütz, das ihm sogar entgegenzuarbeiten
scheint, weil es vielleicht eine Handlung, die wir, unserer
Lage gemäß, nicht für tugendhaft halten, von reizenden
Seiten zeigt, schädlich genannt. Allein das heißt die
Kunst in zu enge Grenzen einschränken, und dennoch
den Zweck der wahren, sittlichen Bildung verfehlen. Der
Grund dieses Irrtums liegt darin, daß man zu unmittel¬
bar wirken, unmittelbar gute Gesinnungen, gute Hand¬
lungen hervorbringen, nicht bloß zur eigenen Hervor¬
bringung vorbereiten will. Dies tut der Künstler, wenn
er die Idee des Schönen überall verbreitet, und sie allein
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