I.
Platon1
(428—347).
Dialog: Philebos.
Einundvierzigstes Kapitel.
Sokr. Jetzt ist nun jedermann imstande, Protarchos,
die Entscheidung zu treffen über Lust und Einsicht,
welches von beiden dem Besten näher verwandt ist und
bei Menschen und Göttern in höheren Ehren steht.
Prot. Es liegt zwar zutage. Gleichwohl ist es besser,
es in regelrechter Untersuchung durchzusprechen.
Sokr. Für jeden einzelnen der drei Begriffe wollen
wir also sein Verhältnis zur Lust und zur Vernunft prüfen.
Prot. Du meinst damit doch Schönheit, Wahrheit und
Ebenmaß ?
Sokr. Ja- Zuerst aber nimm die Wahrheit vor, Pro¬
tarchos; und hast du das getan, so laß deinen Blick ruhig
eine ganze Zeitlang auf den dreien, auf Vernunft, Wahr¬
heit und Lust verweilen und gib dir dann selbst Antwort
darauf, ob die Lust oder die Vernunft der Wahrheit näher
verwandt ist.
Prot. Was bedarf es dazu erst langer Zeit? Denn
sie stechen ja ganz scharf voneinander ab. Denn die Lust
ist die größte Flunkerin, und wie es heißt, kann bei den
Lüsten des Liebesgenusses, die die stärksten zu sein
scheinen, sogar der Meineid bei den Göttern auf Ver¬
zeihung rechnen, da sie wie Kinder sind, die keine Spur
von Vernunft besitzen. Die Vernunft dagegen ist ent¬
weder identisch mit der Wahrheit oder ihr am ähnlichsten
und am wahrsten von allem.
Sokr. Demnächst betrachte also ebenso das Ebenmaß,
ob die Lust davon mehr besitzt als die Einsicht oder die
Einsicht mehr als die Lust.
1 Zu Grunde gelegt sind für den Abdruck die Übersetzungen von
Otto Apelt der Philosophischen Bibliothek, Verlag F. Meiner,
Leipzig.
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