Zur Lehre vom Gemüt.
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Lust als auch Unlust beobachten“ könne. Damit würde die
Streitfrage sich für uns allerdings noch einfacher gestalten
und nur darauf gehen, ob Unlust und Lust zugleich in einem
Augenblicke unserer Selbstbeobachtung festzustellen seien.
Wir bestreiten dies auf Grund der Tatsachen unseres Seelen¬
lebens, meinen aber auch die Quelle des Irrtums, in dem sich
der Gegner befindet, aufdecken zu können.
Lehmann führt als Beleg für seine Behauptung das „Weh¬
mutsgefühl“ an: „Wir fühlen Wehmut, wenn die Erinnerung
an einen angenehmen Zustand Trauer über das Auf hören dieses
Zustandes herbeiführt, also z. B. wenn wir im Begriffe stehen,
einen Ort oder Personen zu verlassen, die wir lieb gewonnen
haben; die Lust, welche die Erinnerung an die verflossenen
Tage erregt, ist hier eine notwendige Bedingung für das Ent¬
stehen der Unlust bei dem Gedanken, daß sie jetzt vorbei
sind, denn könnten wir nicht auf etwas Erfreuliches zu¬
rückblicken, so würden wir auch nicht das Auf hören des
Zustandes betrauern können; das eine Gefühl ist also eine
fortwährende Bedingung für die Existenz des anderen, und
die emotionellen Elemente verschmelzen deshalb zu dem wohl-
bekannten, aber nicht zu beschreibenden Zustande, der, je-
nachdem das Lust- oder das Unlustmoment die Oberhand hat,
zur wehmütigen Freude oder zur wehmütigen Trauer
wird“ (a. a. 0. 250).
Die Behauptung Lehmanns, daß das „Wehmutsgefühl“
Lust und Unlust zu seinen zwei „Momenten“ habe, wird uns
schon in hohem Grade verdächtig durch seine weitere Be¬
merkung, daß dieser „Zustand“ je nach dem vorherrschenden
„Momente“ entweder eine wehmütige Freude oder eine weh¬
mütige Trauer sei. Zunächst leuchtet doch ohne Weiteres
ein, daß, was „wehmütige Trauer“ genannt wird, wenn wir
anders den Worten trauen dürfen, nicht zum Ausdruck bringt,
daß hier ein Vorherrschen der Unlust vor der Lust, sondern
vielmehr, daß ausschließlich Unlust gegeben sei. Das
Wort „wehmütige Freude“ freilich will offenbar von einem
Vorherrschen der Lust vor der Unlust reden; es fragt
sich jedoch, ob, wenn etwa beide Gefühle dabei in Frage
kommen, in solchem Falle Lust und Unlust tatsächlich zu-
Eehmke, Gemüt. 3 «