Full text: Zur Lehre vom Gemüt

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Zur Lehre vom Gemüt. 
„Zustand“ eines Einzelwesens nennen wir unserem Sprach¬ 
gebrauch gemäß eine augenblickliche Beschaffenheit 
eines Einzelwesens. Wir bestimmen den Zustand weiter 
nach der Gattung des Einzelwesens entweder als Körper- oder 
als Seelenzustand, oder im besonderen nach der Bestimmtheit 
des Körpers oder des Bewußtseins, z. B. als Temperaturzustand 
oder als Gemütszustand. Diese beiden Worte erfahren aber viel¬ 
fach eine Deutung, die wir wohl beachten müssen und die dahin 
geht, daß „Temperatur“ und „Gemüt“ selbst verstanden werden als 
ein Einzelwesen, das nun in einem „Zustande“ sich befinde; man 
verwechselt dann die augenblickliche Besonderheit einer 
Bestimmtheit mit der augenblicklichen Bestimmtheit 
eines Einzelwesens und faßt das Allgemeine dieser Be¬ 
stimmtheit selber als ein besonderes Einzelwesen auf. So 
spricht man von der Temperatur als einem angeblichen 
Veränderlichen, das da steigt und fällt, zunimmt und abnimmt, 
in diesem oder jenem Zustande sich befindet, diesen oder jenen 
Zustand aufweist. Aber während hier ohne Schwierigkeit 
dieser Irrweg wieder verlassen und die „Temperatur“ als Zu¬ 
stand eines körperlichen Einzelwesens und nicht als Einzelwesen 
selbst gefaßt wird, stellt sich die Sache wohl anders, wenn 
vom Gemütszustände die Eede ist. Unter „Gemütszustand“ 
will man eben den Zustand eines „Gemütes“ d. i. die augen¬ 
blickliche Beschaffenheit eines angeblichen Einzelwesens „Ge¬ 
müt“ verstehen, und man läßt sich nicht so leicht, wie in jenem 
ersten Falle, davon abbringen. Dabei wird aber keineswegs 
heute das Wort „Gemüt“ in dem Sinne verstanden, wie es 
Immanuel Kant gebrauchte, der „Gemüt“ und „Seele“ für 
gleichdeutige Worte gelten ließ, demnach unter „Gemüt“ das 
Einzelwesen, das wir sonst „Seele“ nennen, verstehen wollte. 
Kant allerdings konnte mit vollem Recht von dem „Zustande, 
in dem sich das Gemüt befindet“ reden, aber seine Verwen¬ 
dung des Wortes „Gemüt“ zur Bezeichnung des seelischen 
Einzelwesens hat, wie sie schon von seinem Zeitgenossen 
Ernst Platner als verwirrende Neuerung abgewiesen wurde, 
bald nach ihm selbst auch wieder das Zeitliche gesegnet. 
Bedeutet aber „Gemüt“ nicht das Einzelwesen, das wir 
die Seele nennen, so kann unter dem Worte „Gemütszustand“,
	        
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