Full text: Zur Lehre vom Gemüt

Zur Lehre vom Gemüt. 
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bekannte „Gefühle“, und gewiß kennen wir alle auch Fälle, in 
denen Zorn, Scham usf. „Überraschung“ mit sich führen, aber 
auch solche Fälle sind uns Allen ebenso geläufig, in denen yon 
„Überraschung“ gar nichts zu finden ist. Wir stimmen hierin 
Lehmann zu, wenn er zum Belege unserer letzten Behauptung 
schreibt: „Bekanntlich kann man sich in Zorn arbeiten; bei 
der Erinnerung an eine gewisse, ursprünglich Zorn erregende 
Lage kann man spüren, wie dieser aufs neue wieder auf¬ 
flammt, und indem man sich nun mit diesen Vorstellungen her¬ 
umbalgt und die Lage immer mehr mit düsteren Farben aus¬ 
malt, ist man imstande sich selbst auf den Siedepunkt zu 
bringen.“1) Es blieben demnach als angebliche besondere 
Kennzeichen des Affekts im Kantischen Sinne noch der hohe 
Grad („heftig“) des Zuständlichen in dem sogenannten „Affekt“ 
und dieWirkung („Überlegung wird unmöglich gemacht“) des 
Affekts. Von der letzten haben wir aber hier ohne weiteres 
abzusehen, auch wenn diese Wirkung in ihrer Besonderheit ein 
unfehlbares Anzeichen für den Affekt wäre, denn sie ist doch 
nicht selbst ein Stück von dem Affekte als solchem. Dem¬ 
nach bleibt der hohe Grad des Gefühles als einziges Kenn¬ 
zeichen des Affekts als solchen übrig und sie erweist sich auch für 
all die von Kant „Affekte“ genannten und allbekannten Bestimmt¬ 
heitsbesonderheiten des Bewußtseins als sicheres Kennzeichen. 
Kants Bestimmung des Wortsinnes „Affekt“ würden wir also, um 
sie vielleicht hinnehmen zu können, nur dahin noch zu berichtigen 
brauchen, daß wir sagten, Affekt bedeutet uns das in An¬ 
sehung seines Zuständlichen (Gefühl) starke „Gefühl“. In¬ 
dessen wenn dies auch bei manchen Fällen nach unserem 
Sprachgebrauch zutrifft, wie bei „Zorn“ \md „Scham“, so 
kennt unsere Sprache doch auch manche andere starke „Ge¬ 
fühle“, denen sie nicht die Bezeichnung „Affekt“ beilegt, so 
z. B. ein starkes „Gefühl“ der Zuneigung, der Liebe, des 
Stolzes, der Demut usf. Wir spüren schon, daß offenbar anderes 
wenigstens noch mit gemeint ist, wenn wir die starken „Ge¬ 
fühle“ des Zorns und der Scham „Affekt“ nennen, aber die der 
Liebe, des Stolzes usf. nicht. 
J) Lehmann a. a. 0. S. 60.
	        
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