Der Grundbegriff aller lebendigen Sitte ist die
Ehre. Alles andere, Treue, Demut, Tapferkeit,
Ritterlichkeit, Selbstbeherrschung, Entschlos¬
senheit liegen darin. Und Ehre ist Sache des
Blutes, nicht des Verstandes. Man überlegt
nicht - sonst ist man schon ehrlos. Die Ehre
verlieren heißt für das Leben, die Zeit, die
Geschichte vernichtet sein. Die Ehre des Stan¬
des, der Familie, des Mannes und Weibes, des
Volkes und Vaterlands, die Ehre des Bauern,
Soldaten, selbst des Banditen: Ehre bedeutet,
daß das Leben in einer Person etwas wert ist,
historischen Rang, Abstand, Adel besitzt.
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Es gibt eine sehr bestimmte Berufsehre unter
Kaufleuten, Handwerkern, Bauern, mit feinen
und doch nicht weniger bestimmten Abstufun¬
gen für den Ladenbesitzer, Exportkaufmann,
Bankier, Unternehmer, für Bergleute, Matro¬
sen, Ingenieure. . . . Niemand hat diese Sitten
gesetzt oder aufgeschrieben, aber sie sind da;
sie sind wie alle Standessitten überall und zu
allen Zeiten anders und jedesmal nur innerhalb
des Kreises der Zugehörigen verbindlich. Ne-
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