ersten fränkischen Dynastie der Merowinger abgesetzt. Außer dem wertlos gewor¬
denen Königstitel habe dieser vor seiner Absetzung angeblich nur noch ein ein¬
ziges Landgut mit geringen Einkünften besessen, so dass ihm der damals zweite
Mann im Staate, der Hausmeier Pippin aus der Familie der Karolinger, ein preka-
risches, will heißen leihweises, widerrufliches und somit ungesichertes Stipendium
zum Lebensunterhalt gewährt habe.
Die Prekarie konnte im frühen Mittelalter des 8. und 9. Jahrhunderts in Lebens¬
situationen auftauchen, die denen ähnelten, die mit dem modernen Wort des Preka-
riats angesprochen werden. Verwitwete alleinerziehende Frauen sahen die Siche¬
rung ihrer Zukunft darin, Prekatorinnen zu werden. Sie schenkten ihre kleinen
Landgüter an einen kirchlichen Grundherrn, empfingen diese zum Nießbrauch zu¬
rück und ließen sich die lebenslange materielle Absicherung durch jährliche Ver¬
sorgungsleistungen in Naturalien und Handwerksprodukten zusichern. Die Verträ¬
ge gingen bis ins Detail, denn nicht nur die Höhe und die Art der Versorgungs¬
güter, sondern auch der Transport wurde regelt. Eine Witwe mit Kindern erwirkte
beispielsweise, dass das Kloster St. Gallen die Naturalien bis zu ihrem Haus lie¬
ferte, ja sogar dass sie eine Kuh in den klösterlichen Stall stellen durfte, damit sie
dort gehütet und gemolken wurde. Die Klosterleitung wird außer der karitativen
Verpflichtung ein hohes Interesse am Besitz gerade dieses Landguts gehabt haben,
um einen solchen, für sie recht kostspieligen Vertrag abzuschließen.
Bei Fällen dieser Art war durch den Wegfall des Familienoberhaupts tatsächlich
eine prekäre Lage entstanden. Die Bewirtschaftung des ursprünglich selbständigen
Landguts war nicht mehr in ausreichender Weise möglich. Durch solche Schick¬
salsschläge waren bäuerliche Familien nicht nur in ihrem gewohnten wirtschaft¬
lichen Lebensstandard, sondern auch in ihrem Rechtsstatus gefährdet, drohte ihnen
doch der Verlust der persönlichen Freiheit. Wohl dem, der noch über ein attrak¬
tives Gehöft verfügte, mit dem er eine Prekarie einrichten und dadurch den sozia¬
len Abstieg abbremsen oder gar verhindern konnte. Die Prekarie erscheint dabei als
Strategie, die Verarmung aufzuhalten.
Modem mutet es auch an, wenn alte Leute sich mit einer Landschenkung an ein
Kloster eine Versorgung erkauften, wie sie heute derjenigen in einem Seniorenstift
entspräche, mit dem dezidiert geäußerten Ziel, sich von unwilligen oder unvermö¬
genden Kindern unabhängig zu machen. Damit die vorhandenen Erben nichts ge¬
gen derartige Gütertransaktionen unternahmen, die ihr Erbe zweifellos schmäler¬
ten, wurden Teile der Schenkung als prekarische Rückleihe zu Nießbrauch für den
Schenker und seine direkten Erben auf Lebenszeit ausgenommen.
Alle bisher genannten Beispiele sind jedoch selten dokumentierte, vereinzelt
auftretende Fälle. Die Prekarie hat vielmehr in der Art und Weise, wie sie im Mit¬
telalter am meisten benutzt wurde, nichts mit Zukunftsangst oder Armut zu tun,
denn nur der Grundeigner ist befähigt, überhaupt ein Prekator zu werden, das heißt
sein Eigentums- in ein Nutzungsrecht umzuwandeln. Die prekarische Leihe kann
somit in der Regel nur von der relativ gutsituierten Schicht der Grundbesitzer in
Anspruch genommen werden.
Die vielen hundert mittelalterlichen Urkunden über Schenkung von Eigengut
und Rückleihe desselben weisen zu einem sehr hohen Prozentsatz eine relativ ver¬
mögende Gesellschaftsschicht aus, die sich an diesem Geschäft mit zumeist klös¬
terlichen Grundherrschaften beteiligt. Es sind Könige, weibliche Mitglieder der
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