zur Abstimmung über das Saarstatut am 23. Oktober 1955 helfen Archive, Legen¬
den zu entlarven9.
Zunächst einmal müssen sich die Archive der Frage stellen, warum ihre Bedeu¬
tung in der Öffentlichkeit immer noch so unklar und verzerrt wahrgenommen wird.
Weite Teile der Öffentlichkeit erwarten immer noch vor allem alte Bücher im Ar¬
chiv. Archive, Bibliotheken und Museen werden gerne in einem Atemzug genannt
und dabei sind sie doch so unterschiedlich. Archive verwahren Nachlässe von
Künstlern, Architekten und Politikern, von Verbänden und Vereinen und in der
heutigen Zeit besonders wichtig auch von Fotografen. Archive pflegen auch
Sammlungen von Zeitungen, Karten und Plakaten. Archivare verwahren aber vor
allem Akten. Da historische Museen in ihren Ausstellungen auf Archivgut ange¬
wiesen sind, assoziiert die Öffentlichkeit Verbindungen zwischen Museum und
Archiv. Die erheblichen Unterschiede zwischen den drei genannten Einrichtungen
werden für viele erst bei einem Blick hinter die Kulissen verständlich. Archive ste¬
hen immer im Kontext eines Verwaltungsbereiches, für den sie zuständig sind, so
das Stadtarchiv für die Stadtverwaltung Saarbrücken. Die hier entstehenden Unter¬
lagen werden, wenn sie nicht mehr für die Amtsgeschäfte vorgehalten werden
müssen, archivisch bewertet. Was als „archivwürdig“ bewertet wurde, wird ins Ar¬
chiv übernommen und so erschlossen, dass die Öffentlichkeit beziehungsweise der
Benutzer die für sein jeweiliges Forschungsinteresse relevanten Unterlagen ermit¬
teln kann. Genau diese Macht über das Aufbewahren oder Vernichten von Unterla¬
gen sehen Kulturwissenschaftler als Beleg für die Macht der Archive, weil sie da¬
mit eine Deutungshoheit über die Geschichte hätten.
Eine weitere Kemaufgabe ist der Anspruch, die Unterlagen für die Ewigkeit
aufzubewahren und damit Gedächtnis auch für zukünftige Generationen zu sein.
Bibliotheken beschäftigen sich dagegen mit Publikationen, die sie in Anlehnung an
ihr Sammlungsprofil erwerben. Publikationen, die abgenutzt sind oder deren Aktu¬
alität nicht mehr gegeben ist, werden ausgesondert und vernichtet. Dies ist ein wei¬
terer erheblicher Unterschied zum Archiv, denn als archivwürdig bewertete Unter¬
lagen werden nicht nachträglich einer erneuten Bewertung unterzogen. Die Unter¬
schiede zur Bibliothek zeigen sich auch in einer ganz anderen Methodik der Er¬
schließung. Archive ordnen das übernommene Archivgut nicht nach Betreffen be¬
ziehungsweise Schlagwörtem. Vielmehr lassen sie die als archivwürdig bewerteten
Unterlagen einer abgebenden Stelle zusammen, zum Beispiel das Kulturamt der
Stadt Saarbrücken. Diese Stelle, etwa das Kulturamt, bildet einen Bestand, das
heißt die Stelle, bei der die Unterlagen entstanden sind; in der Fachterminologie
Provenienz genannt, bilden eine Herkunftsgemeinschaft und bleiben zusammen.
Das Schlagwortprinzip der Bibliotheken auf das Archivwesen übertragen, würde so
aussehen: Die Unterlagen des Kulturamtes werden auseinandergerissen und gebil¬
deten Pertinenzen beziehungsweise einem Schlagwortkatalog zugeordnet, dies
könnten zum Beispiel sein Theater, Kleinkunst, Musik, Altstadtfest und so weiter;
die Unterlagen des Kulturamtes würden diesen Begriffen zugeordnet werden. Ent¬
sprechende Akten aus anderen Ämtern würden ebenfalls auseinandergenommen
und die entsprechenden Vorgänge diesen Schlagworten zugeordnet werden. Was
9 Dietmar tlüSER, Frankreichs doppelte Deutschlandpolitik. Dynamik aus der Defensive -
Planen, Entscheiden, Umsetzen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, innen- und
außenpolitischen Krisenzeiten 1944-1950, Berlin 1996.
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