Demgegenüber überrascht die revisionistisch angehauchte Aussage in „Anno“
von 1997 bis 2003, nach der das Ergebnis der Abstimmung die „Revisionsbedürf¬
tigkeit“ des Versailler Vertrages „bewies“24 und Hitler von einer Welle der Popula¬
rität getragen nun das Schanddiktat von Versailles durchlöcherte. Die Skala der
Darstellungen ist in der Tat breit. So steht etwa auf der einen Seite die falsche Aus¬
sage, dass der massiven und teils heimlichen Aufrüstung der offene Bruch des Ver¬
sailler Vertrages: der Einmarsch in das Saargebiet (1/1935) folgte25. Die Abstim¬
mung im Saarland hatte zwar zu der Verletzung der Auflagen des Versailler Ver¬
trages, wie sie dann 1936 mit dem Einmarsch ins Rheinland erfolgte, ermutigt, das
Plebiszit im Januar 1935 war jedoch noch den Bestimmungen gemäß durchgeführt
worden. Neben solchen Schieflagen und falschen Darstellungen finden wir auf der
anderen Seite aber zugleich - selten - Hinweise auf die Tragweite und Folgen der
Abstimmung: Über 90% der Wähler stimmten für den Anschluss an das Deutsche
Reich und damit auch für den nationalsozialistischen Staat. Das sorgte für einen
unbeschreiblichen nationalen Jubel. Dass aber auch 5000 deutsche NS-Gegner,
die bis dahin unter dem Schutz der Franzosen in Sicherheit waren, fliehen mussten,
fiel dagegen kaum jemandem auf26.
Die bis heute strittige Frage - weniger in der historischen Forschung als in Tei¬
len des saarländischen kollektiven Bewusstseins und Narrativs - wird in dem bis in
die Gegenwart weit verbreiteten „Zeiten und Menschen“ von 1970 noch eindeuti¬
ger beantwortet: Auch diente die Rückkehr des Saarlandes in den deutschen Staats¬
verband [...] dem Prestige Hitlers: in einer vom Völkerbund kontrollierten freien
Abstimmung hatte die Bevölkerung sich für die deutsche Diktatur entschieden'1.
1982 wird der im Wortlaut gleichen Aussage gar ein Ausrufezeichen hinzugefügt“8.
Die apodiktische Aussage lässt keinen Raum, eine eigene Position zu der Frage
einzunehmen. In dem der „Zeitgeschichte“ gewidmeten Band des zu den Klassi¬
kern zählenden Lehrwerkes „Zeiten und Menschen“ heißt es in einer Ausgabe von
1983: 89% der Saarländer stimmten für die Wiedereingliederung ins Reich. Bei
34 Anno, Bd. 4: Das 20. Jahrhundert, hg. von Bernhard ÄSKANi und Elmar Wagener,
Braunschweig (Westermann) 1997 (so auch im Druck von 2003), S. 91.
2' Expedition Geschichte, Rheinland-Pfalz, Bd. 3, Klasse 10, Von der Weimarer Republik
bis zur Gegenwart, hg. von Prof. Dr. Florian Osburg und Prof. Dr. Dagmar Klose, erar¬
beitet von Manfred Albrecht und anderen, Frankfurt am Main (Diesterweg) 2001, S. 49.
26 Geschichts-Kurse für die Sekundarstufe II, hg. von Herbert Prokasky und Martin Tab-
aczek, Bd. 4: Dirk Hoffmann und Friedhelm Schütze: Weimarer Republik und natio¬
nalsozialistische Herrschaft, Paderborn (Bildungshaus Schulbuchverlage) 2004 (Druck
2009), S. 145.
2 Zeiten und Menschen. Geschichtliches Unterrichtswerk, hg. von Dr. R. H. Tenbrock,
Prof. Dr. K. Kluxen und Prof. Dr. H. E. Stier, Oberstufe Ausgabe G, Bd. 2, Paderborn
(Schöningh/Schroedel) 1970 (Druck 1983), S. 136.
28 Zeiten und Menschen. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft im 20. Jahrhundert. Teil I: Von
1919 bis 1945, bearbeitet von Erich Goerlitz, Erich Meier, Helmut Mejcher und Ker-
rin Gräfin Schwerin. Ausgabe K Band 4/1. Paderborn (Schöningh/Schroedel) 1982, S.
146.
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