arbeit beginnen, damit diese historischen Ereignisse nicht dem kollektiven Verges¬
sen anheimfallen und die heldenhaften und patriotischen Aktionen der Saarbrücker
Bürger im Jahr 1815 auch den nachfolgenden Generationen vermittelt werden.
Diese in Druckfassung vorliegende Petition sollte nachträglich auch noch anderen
Bürgern zur Unterschrift vorgelegt werden. Allerdings brachte diese Aktion den
Initiatoren eine große Enttäuschung. So schrieb einer der Akteure: Die Gesin¬
nungen, denen der Antrag Ausdruck geben sollte, scheinen nicht die Gesinnungen
der großen Mehrheit der Bürger dieser Städte zu sein. Ich habe Grund zu bezwei¬
feln, dass die 50 offengelegten Exemplare auch nur 50 aufmerksame Leser gefun¬
den haben14 Er beteuerte, dass er seinen Antrag aus Liebe zum deutschen Vater¬
lande [und] in der Treue gegen die eigene Geschichte gestellt habe. Jetzt aber
stellte er resignierend fest, dass die Mehrheit der Bürger offensichtlich kein oder
ein anderes Vaterland habe als er.
Nach 1860 änderten sich infolge der Industrialisierung und Urbanisierung die
Rahmenbedingungen für das kulturelle und politische Leben in den Saarstädten
grundlegend. Infolge des Ausbaus zu einem Montanzentrum kam es in der Zeit von
1860 bis 1905 zu einem explosionsartigen Bevölkerungswachstum, wobei sich die
Einwohnerzahl von 15.000 auf 84.000 vervielfachte. Die Zuwanderer in den Ver¬
waltungen, die akademischen Führungskräfte in den Industrieunternehmen sowie
die Mitglieder der Offizierskorps stammten vielfach aus anderen Teilen Preußens,
aber nach und nach reduzierten sich die Gegensätze zwischen der einheimischen
Führungsschicht und den zugezogenen neuen Eliten^. Der Prozess der sich be¬
schleunigenden Annäherung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen dauerte je¬
doch noch mehrere Jahrzehnte. Erst 1887 öffnete die exklusive Saarbrücker Casi¬
nogesellschaft ihre Tore für Offiziere der Garnison, worauf das gesamte Offi¬
zierskorps Mitglied der Gesellschaft wurde. Damit war der lokale Schulterschluss
zwischen den militärischen und zivilen Eliten aus Verwaltung, Industrie und Kul¬
tur eindrucksvoll vollzogen.
Der immer stärker werdenden Dominanz der deutsch-preußischen Gesinnung
entsprach ein Bedeutungsverlust der frankophilen Bevölkerungsgruppen, die sich
im öffentlichen Leben, in den Vereinen und der Presse kaum noch artikulierten.
Unter diesen Bedingungen wurde eine noch bis zur Jahrhundertmitte erkennbare
profranzösische Erinnerungskultur völlig überlagert. Die beiden Saarstädte wurden
zu einem Sozialraum, in dem zum Teil importierte Erinnerungen preußisch-deut¬
scher Provenienz ein Deutungsmonopol erwarben14 16. Auch über mehrere Generatio¬
14 StA Saarbrücken, Bestand BGM Alt-Saarbrücken, Nr. 2074, Schreiben an den Bürger¬
meister Schmidtborn vom 20. November 1865.
15 Vgl. Jürgen Hannig, Im Schatten von Spichern: Militarismus und Nationalismus im
Saarrevier vor dem Ersten Weltkrieg, in: Richard van Dülmen und Reinhard Klimmt
(Hg.), Saarländische Geschichte. Eine Anthologie, St. Ingbert 1995, S. 263-72.
16 Zahlreiche wichtige Akteure für den Aufbau einer lokalen Erinnerungskultur stammten
aus Preußen, wie zum Beispiel Albert Ruppersberg, geb. in Marburg, der 1913 den zwei¬
ten Band seiner Geschichte der Stadt Saarbrücken publizierte. Mangold, der Oberbürger¬
meister der Großstadt Saarbrücken, stammte aus Düsseldorf, da sich die rivalisierenden
Stadtverordnetenversammlungen von Saarbrücken und St. Johann nicht auf einen ein¬
heimischen Kandidaten verständigen konnten. Das galt auch für andere führende Bei¬
geordnete. Hans Weszkalnys, der wichtigste Akteur bei der Gestaltung der Jahrhun¬
dertfeier von 1913, stammte aus Ostpreußen.
355