Dass der alte preussische Geist noch in uns lebt-
Die Jahrhundertfeier der Völkerschlacht bei Leipzig in
Saarbrücken (Oktober 1913)
Rolf Wittenbrock
Erinnerung contra Geschichte?
In Territorien, um deren staatliche Zugehörigkeit über mehrere Jahrhunderte hin¬
weg gekämpft und gestritten wurde, ist die Deutung der jeweiligen regionalen Ge¬
schichte immer auch ein politisches Konfliktfeld gewesen, das abhängig von den
wechselnden machtpolitischen Konjunkturen oft zu ganz gegensätzlichen Wahr¬
nehmungen und Wertungen führte. Die Arbeit der Historiker wurde in ihren For¬
schungsthemen und Erkenntniszielen wesentlich bestimmt von übergeordneten na¬
tionalpolitischen Interessen. Geschichte und ihre Deutung wurde immer auch in¬
strumentalisiert für zukunftsgerichtete politische Argumentationsstrategien. So
dauerte die Kontroverse in der Saarregion über die Deutung der Französischen Re¬
volution und die Herrschaft Napoleons letztlich mehr als 150 Jahre1. Dabei ver¬
wandelte der Kampf um die historische Deutungshoheit die regionale Geschichte
schon zeitweise in ein regelrechtes „Schlachtfeld der Erinnerung“2 *.
Ein bevorzugtes Instrument historischer Sinnstiftung und politischer Identitäts¬
konstruktion waren dabei immer auch nationale Jahrestage und Jubiläen, deren
Funktionen und Rituale ja inzwischen in den Blickpunkt der neueren Forschung
gekommen sind1. Eine Untersuchung der politischen Festkultur verspricht gerade
auch in Grenzregionen Aufschlüsse darüber, wie rivalisierende kollektive Gedächt¬
niskonstruktionen ihre jeweilige Deutungshoheit erkämpft, ausgebaut und auch an
nachfolgende Generationen tradiert haben. Diese Fragestellung soll hier am Bei¬
spiel der Jahrhundertfeier der Völkerschlacht bei Leipzig in Saarbrücken unter¬
sucht werden.
Überall im Deutschen Reich waren 1913 diese Jahrhundertfeiern ja Kulminati¬
onspunkte der patriotischen Begeisterung, die zugleich einer mentalen Mobilma¬
chung angesichts wachsender Kriegsgefahr dienten. Dabei ist zu fragen, welche
Bedeutung die reale Lage Saarbrückens und seiner Bewohner im Jahr 1813 für die
Festtagsrhetorik bei der Jahrhundertfeier hatte. Kann es sein, dass hier 1913 eine
lokale „Eigengeschichte“ konstruiert wurde, die kaum noch etwas mit den sachge-
schichtlichen Fakten des Jahres 1813 zu tun hatte? Erfolgte hier eine Erinnerungs¬
konstruktion, die im Grunde ein importiertes reichsdeutsches Gedächtnis in die
kollektive Erinnerung der Saarbrücker implantierte?
1 Vgl, Peter Burg, Saarbrücken im revolutionären Wandel (1789-1815), in: Geschichte der
Stadt Saarbrücken, hg. von Rolf Wittenbrock, Bd. 1, Saarbrücken 1999, S. 517f. sowie
Peter Burg, Saarbrücken 1789-1860. Von der Residenzstadt zum Industriezentrum,
Blieskastel 2000.
Zu Erinnerungskonflikten auf europäischer Ebene siehe Claus Leggewie, Der Kampf um
die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011.
Grundlegend dazu Winfried MÜLLER, Das historische Jubiläum. Zur Geschichte einer
Zeitkonstruktion, in: Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenie¬
rungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004, S. 1-8.
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