bestand. Dies verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass Margarethe ausschließlich an
französischsprachigen Höfen aufgewachsen und erzogen worden ist. Diese Sprache war
ihr so vertraut, dass sie auch den umfangreichen Briefwechsel mit ihrem Vater Maximilian
stets auf Französisch führte. Ob sie überhaupt Deutschkenntnisse besaß bzw. zumindest
Flämisch verstand, ist unklar und eher unwahrscheinlich. Denn ihr Hofpoet und Hofhi-
storiograph Jean Lemaire de Beiges nennt unter den Sprachen, die sie fließend habe spre¬
chen können, neben dem Französischen nur Spanisch. Dieser Feststellung entspricht der
Befund, den man anhand ihrer Bücher erheben kann. Neben der großen Zahl franzö¬
sischsprachiger Werke finden sich einige wenige lateinische Schriften (meist religiösen In¬
halts) sowie eine geringe Anzahl spanischer Bücher, die sie vermutlich wie etwa die reich
illuminierte Handschrift eines spanischen Ritterromans oder einen spanischen Melusine-
Druck von ihrem Aufenthalt am kastilischen Hof mitgebracht hatte. Flämische Literatur,
die sie interessierte, ließ sie sich offenbar ins Französische übersetzen, wie etwa die Vita
der heiligen Colette, und so benutzte sie auch für deutschsprachige Literatur französische
Übersetzungen, wie etwa die französischen Versionen von Heinrich Seuses Büchlein der
ewigen Weisheit oder von Sebastian Brants Narrenschiff}" Während diese Übersetzungen, die
übrigens, dies sei nur am Rande bemerkt, nicht von den volkssprachigen, sondern von
den jeweiligen gelehrten lateinischen Fassungen der Texte ausgingen, bereits Ende des 15.
Jahrhunderts im französischen Raum greifbar und leicht zu erwerben waren, musste Mar¬
garethe für andere deutschsprachige Werke erst Übersetzungen in Auftrag geben, und dies
sind die Texte, die uns im Folgenden besonders interessieren werden. Dabei geht es mir
nicht nur um Fragen des Inhalts und der sprachlichen Vermittlung, sondern ebenso sehr
um solche der Funktion und des Gebrauchszusammenhangs, d.h. es geht nicht zuletzt um
den Status dieser Werke an Margarethes Hof, der angesichts der deutlich französisch-
burgundisch ausgerichteten Büchersammlung alles andere als selbstverständlich war und
damit besondere Aufmerksamkeit verdient.
Die erste hier vorzustellende Pergamenthandschrift enthält eine Genealogie Kaiser
Karls V., die zwischen 1527 und 1530 für Margarethe, die Tante Karls V., entstand.10 11 Als
Übersetzer des dreiteiligen Geschichtswerks, das der Tradition habsburgischer Genealo¬
gien gemäß mit Noah beginnt und im dritten Buch mit den unmittelbaren Familienmit¬
gliedern und Zeitgenossen Margarethes, ihrem Vater Maximilian, ihrem Bruder Philipp
sowie ihrem Neffen, Karl V., endet, nennt sich im Prolog Jean (Jehan) Franco. Franco
war ,secrétaire*, d.h. Verwaltungsbeamter am Hof Margarethes in Mechelen/Malines und
Mitglied des Conseil privé. Er gehörte damit zur Gruppe jener doch et litterati an den früh¬
neuzeitlichen Höfen, die aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer Sprachkompetenz im Ver¬
lauf des Spätmittelalters unverzichtbar geworden waren, nicht nur für die zunehmend
10 Das einzige deutschsprachige Buch, das ich in ihrer Bibliothek ermitteln konnte, war ein Band mit dem
rätselhaften Titel Le Monteßa Eluffaures. Leider ist die Handschrift seit dem Brand der Escurial-Bibliothek
1671 verschollen. Späteren Inventaren zufolge handelte es sich um eine Schrift über die Natur der Tiere
und die Jagd, siehe Debae: La Bibliothèque (wie Anm. 3), Nr. 127.
11 Franco, Jean: La Généalogie de l’empereur Charles Wr de ce nom, de don Fernande, roy d’Ongne et celle de madite
Dame, Paris, Bibliothèque nationale, ms. fr. 5616. Vgl. die Kurzbeschreibungen bei Debae: Im Bibliothèque
(wie Anm. 3), S. 490-492 und Eichberger: Women of Distinction (wie Anm. 4), S. 131 f. (mit Abb.).
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