3. Idealtypische Herrscherinnen
ln Loher und Maller wie auch in I luge Scheppel wird am Beispiel der schillernden Figur
Weißblumes ein deutliches Interesse an den Verhaltensweisen einer Herrscherin sichtbar.
W ie aber steht es mit den idealtypischen adeligen Frauenfiguren, die sich gegenüber ihren
Ehemännern zurückzunehmen wissen und deshalb auf den ersten Blick weniger als amts¬
ausübende Figuren in Erscheinung treten? Auch diese Fürstinnen sind zu beherztem Auf¬
treten befähigt, vor allem wenn sie ohne ihren Partner handeln müssen. So reagiert die
frischgebackene Königin Sibille in einem Moment der Abwesenheit ihres Ehemanns auf
die Bedrohung der königlichen Ehe durch einen teuflischen Zwerg mit einem kräftigen
Faustschlag, wie es wohl auch ihr Ehemann getan hätte, wenn er zugegen gewesen wäre
(vgl. Sibille fok 59va‘vb).18
Im Verlauf der Handlung bleibt es der von König Karl verbannten Sibille lange Zeit
verwehrt, als Herrscherin am eigenen Hof zu agieren. Im Moment ihrer Verstoßung trägt
sie den durch ein Kreuz auf der Schulter legitimierten Sohn Karls im Leib, was ihr fortan
die Sorge um die Sichemng der Rechte des Thronfolgers und das Fortbestehen der Dyna¬
stie auferlegt - eine nicht nur mütterliche, sondern zugleich herrscherliche Aufgabe. Be¬
zeichnenderweise ist es ein Kennzeichen der Fürstinnen im Werk Elisabeths, dass sie sich
intensiver als ihre Ehemänner mit ihren Söhnen verbunden fühlen.1"
Man kann Sibilles quer durch Europa und zurück an den Karlshof führenden (Leidens-
)Weg als die Unternehmung einer zu Unrecht vertriebenen Herrscherin lesen, der es
durch ethische Vorbildlichkeit gelingt, alle gesellschaftlichen Kreise — den Bauernstand
(Warakier), die Gottesmänner (Einsiedler, Papst), das Heer der Byzantiner und sogar die
vagabundierenden Kriminellen (Grimmoner) - um sich zu sammeln, um das Fortbeste¬
hen einer von Gott legitimierten Dynastie und damit die öffentliche Ordnung gegen die
Machenschaften der Verräter am Hof zu sichern.
Auffällig ist, dass die vorbildlichen Herrscherinnenfiguren Elisabeths — wie übrigens
auch die Saarbrücker Gräfin selbst — erstgeborene Söhne zur WVlt bringen (neben Sibille
sind es unter anderem Adelheid, Florentine und Fröhlich im Herpin oder Zormerin in Lo¬
her und Maller). Männliche Nachkommen zu gebären, stellt eine überaus wichtige Aufgabe
der Herrscherinnen in Elisabeths Werk wie auch in der mittelalterlichen Wirklichkeit dar.
Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass es der Königin Weißblume nicht be¬
schießen ist, diese ,Leistung* zu erbringen, wodurch eine Szene im Huge Scheppel ihre ei¬
gentliche Pointe erhält:
18 Benutzt werden die folgenden Ausgaben: Huge Scheppel / Königin Sibille (wie Anm. 13); Der Roman von der
Königin Sibille in drei Prosafassungen des 14. und 15. Jahrhunderts (Veröffentlichungen aus der Staats- und Uni¬
versitätsbibliothek Hamburg 10). Mit Benutzung der nachgelassenen Materialien von Fritz Burg. Her¬
mann Tiemann (Hg.), Hamburg 1977.
19 Vgl. Gaebel: Chansons de ge ste (wie Anm.4), S. 239f.
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