Da die Verräter und ihre Verbündeten von der Forderung nach der Königstochter
nicht ablassen, kommt es zur Belagerung von Paris. Die Herrscherin weiß, was sie ihren
Kämpfern schuldig ist, und zeigt sich mit Marie auf der Treppe des Palastes (vgl. Huge fol.
12' )A Als Huge, der von allen als bester Kämpfer gepriesen wird, ihr mit einer Verbeu¬
gung einen gefangenen Grafen überantwortet, spricht Weißblume ihren Favoriten mehr¬
deutig als ,,liebe[n] gesellefnj“ an, nimmt ihn öffendich bei der Hand und lädt ihn in den
Palast zu Tisch (Huge fol. 13rb).
Kaum hat er dort Platz genommen, lässt ihm die Königin zur Auszeichnung einen ge¬
bratenen Pfau servieren (Abb. 6). Darüber empfindet Huge Scham und leistet auf den
Pfau das Gelübde, am folgenden Tag ins feindliche Lager zu reiten, um mindestens einen
der gegnerischen Anführer zu töten, auch wenn er selbst dabei umkommen solle (vgl.
Huge fol. 13'). Diese Szene ist ein Lehrbeispiel für die Deutungsoffenheit symbolischer
Kommunikation, beruht doch Huges Reaktion auf dem Orientierungswissen, dass derje¬
nige, dem ein Pfau vorgesetzt wird, nach alter Gewohnheit eine kühne Tat zu vollbringen
hat (vgl. Huge fol. 13vb).15 16 17 Die Königin aber hatte daran nicht gedacht, als sie den eigentlich
für ihren Tisch bestimmten Pfau zu Huge umleiten ließ (vgl. Huge fol. 13' ), und ist nun
entsetzt über das Resultat ihrer Geste. Dass sie, ohne es zu wollen, ihren Favoriten zu ei¬
nem Selbstmordkommando animiert hat, belegt ihre Unsicherheit im herrscherlichen Re¬
gister. Nun muss sie zurückmdern und Huge den Ausflug ins feindliche Lager ausdrück¬
lich verbieten. Zusätzlich gibt sie die Anweisung, die Stadt hermetisch zu verschließen
und niemanden hinauszulassen (vgl. Huge fol. 14) - eine erneute Überreaktion der Köni¬
gin, die ins Leere läuft, da Huge kurzerhand über die Mauer steigt (vgl. Huge fol. 15), um
seine angekündigten Heldentaten zu vollbringen.
Als die Belagerer Weißblume später mit dem Mittel der Diplomatie schlagen wollen
und ihr durch einen Boten Frieden anbieten, sofern sie ihre Tochter freigibt und Huge
ausliefert (Abb. 7), verhält sie sich ein weiteres Mal unvorsichtig, indem sie in öffentlicher
Rede in ein sprachliches Register fällt, das, wenn es zwischengeschlechtlich verwendet
wird, als das des Minnedienstes aufgefasst werden kann: Sie sieht Huge „gütlich an“ und
erklärt, ihr „geselle“ habe ihr so „wol gedienet“, dass sie ihn „liep habe“ und nicht mehr
entbehren könne (Huge fol. 2T).1
Erst danach gesteht sich Weißblume in einem Monolog ihre Verliebtheit, die sie der
Öffentlichkeit längst signalisiert hat, auch selbst ein (vgl. Huge fol. 21va), aber als sie von
ihrer Tochter befragt wird, warum sie so bleich sei, gibt sie ihre Liebessymptome als Sorge
15 Man beachte, dass Weißblume die Reaktion im Volk durchaus missdeutet (fol. Huge fol. 12vb-13ra).
16 Vgl. zum Hintergrund dieser Szene: Müller, ]an-Dirk: „Held und Gemeinschaftserfahrung. Aspekte der
Gattungstransformation im frühen deutschen Prosaroman am Beispiel des ,Hug Schapler<u, in: Daphnis 9
(1980) H. 3 S. 393-426, hier S. 419; Haug, Walter: „Huge Scheppel — der sexbesessene Metzger auf dem
Lilienthron. Mit einem kleinen Organon einer alternativen Ästhetik für das spätere Mittelalter“, in: Wolf¬
ram-Studien 11 (1989) S. 185-205, hier S. 187f.
17 Wenn aber der Gegner unbedingt ihres „dieners“ teilhaftig werden wolle, so fahrt Weißblume fort, wür¬
de sie ihn schneller, als dem Feind „liep“ sei, hinüber schicken. Der Bote hört die doppeldeutigen Begrif¬
fe wohl heraus und antwortet: „Ffrauwe [...] hait uch der geselle [...] wol gedienet So ist is billich Das ir
yne liep habent“, und setzt das Wortspiel fort: Wenn es ihr nun „gliebe“, seine Botschaft gut aufgenom¬
men zu haben, mag es ihr auch „geliehen“, ihn gehen zu lassen (Huge fol. 21rb).
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