Ranges beauftragt, allen voran Lievin van Lathem, von dem unter anderem die Kreuzab¬
nahme 104', die Grablegung 111' und das Pfingstbild 50' mit dem Typus-Medaillon des
die Gesetzestafeln empfangenden Moses darunter stammt. 1454 ist er als Meister der Ma¬
lergilde von Gent bezeugt,42 43 für Herzog Philipp den Guten täüg, seit 1468 im Dienst
Karls des Kühnen, dem Vater Marias von Burgund, für den er zusammen mit Nicolas
Spierinc,4' dem zweiten namentlich belegten Maler der Handschrift, von dem auch die
Gold- und Silberschrift stammt, 1469 ein Gebetbuch illustrierte. Während van Lathem
und seine Werkstattgehilfen ihre Vorliebe für regelmäßiges, flächig aufgelegtes, mit Gold¬
punkten durchsetztes und von Vögeln, Schnecken und anderem Kleingetier belebtes
Blattwerk auf den Seitenrändern demonstrieren, zeichnen sich Spierincs Blattwerkrahmen
durch zwar weniger buntfarbige, dafür aber sehr tiefenräumlich aus den Rahmen heraus¬
wachsende, ,naturalistische4 Akanthusranken aus, wie z.B. auf dem Kreuzigungsbild 99'.
Von Nicolas Spierinc stammt auch die eindrücklichste und im Kontext der Stundenbuch-
Ikonographie ungewöhnlichste Miniatur der Handschrift, die alle anderen an künstleri¬
scher Vollendung und Originalität übertrifft: die Miniatur mit der im Gebetbuch lesenden
adeligen Dame auf 14' (Abb. 8), mit der nach dem auf Blatt 13 endenden Kalender der
Textteil eingeleitet wird. Darstellungen von betenden Bucheigentümerinnen sind, wie
schon erwähnt wurde, keine Seltenheit in Stundenbüchern. Die Art und Weise, wie sich
hier die intendierte Benutzerin selbst ins ikonographische Programm einbringt, ist jedoch
mehr als außergewöhnlich. Der Bildaufbau folgt denen der übrigen ganzseitigen Miniatu¬
ren: Ein Hauptbild wird von einem unten und links breiteren, rechts schmaleren Rahmen
umschlossen, der hier jedoch nicht eine mit Rankenwerk, Pflanzen und Tieren belegte
Fläche — wie bei van Lathem — oder ein plastischer Rahmen ist, aus dem Ranken heraus¬
wachsen — wie sonst bei Spierinc -, sondern ein architektonisches Raumelement, das
deutlich zum Hauptbild hinzugehört und — als geöffnetes Fenster — den Blick dorthin
freigibt. Dort sitzt Maria mit dem Kind — und zwar nicht, wie in Jolandes de Soisson Psal¬
ter-Gebetbuch des 13. Jahrhunderts als Skulptur, sondern leibhaftig — auf einem von vier
Engeln mit Leuchtern flankierten Teppich im Chor einer gotischen Kathedrale vor einem
Retabel-Altar mit geschlossenen Flügeln. Rechts kniet ein Mann im roten Pluviale, ein
Rauchfass schwingend, links eine vornehme Dame im blauen Brokatkleid mit drei Beglei¬
terinnen. Weiter hinten links im Chor liegt ein weißes Windspiel, hinter dem zwei Perso¬
nen stehen, weitere blicken aus den Fenstern der Oratorien. Der Blick des Betrachters auf
diese in einem tiefen Innenraum spielende Szene wird durch den als Fenster mit zwei ge¬
öffneten Butzenscheiben-Flügeln materialisierten Bildrahmen gelenkt: die Fensternische
eines Wohnraums, der sich direkt zur Kirche hin öffnet. Auf der Fensterbank steht rechts
eine Vase mit blauen Lilien — Anspielung auf Maria —, daneben liegen zwei Nelken sowie
eine Halskette, eine Perlenbrosche und ein seidenes Tüchlein. Rechts vorne ist ein goldenes
42 Zu Lathem siehe Wolf, Eva: Das Bild in der spätmittelalterlichen Buchmalerei. Das Sachsenheim-Gebetbuch im
Werk Lievin van l^athems (Studien zur Kunstgeschichte 98), Hildesheim u.a. 1996.
43 Siehe van der Hoek, Klaas: „De Noordhollandse verluchter Spierinck: Haarlem en/of Beverwijk, ca.
1485-1519“, in: Joseph M. M. Hermans (Hg.): Middeleeume handschrifien künde in de Nederlanden 1988: Vers lag
van de Groningse Codicologendagen 28-29 aprii 1988 (Nijmeegse Codicologische Cahiers 10-12 [1988]), S. 163-
182.
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