einen Augenblick müßig oder trübsinnig war, erbat sich von ihrem Gatten die Erlaubnis
zu sprechen“ . Die bereitwillig gewährte Rede erlaubt ihr, der ,von der Welt abgeschnit-
tenetT Gruppe ihr Projekt des Novellenerzählens vorzustellen. Wir haben es also mit ei¬
nem doppelten Prozess der Delegierung zu tun. Marguerite de Navarre delegiert ihre Rede
an Parlamente, die ihrerseits von männlicher Seite ,Redefreiheit4 erhält. Mit Hilfe dieser si¬
cher nicht ganz unironischen Prämisse schafft die Autorin explizit eine utopische Ge¬
meinschaft, in der jedes Mitglied das Recht auf eine Stimme, jede/jeder das Recht auf sei¬
ne eigene Überzeugung hat. Wehle wies bereits darauf hin, dass die Diskussionen der
Rahmenhandlung im Kontext der Dialogliteratur der Renaissance zu verstehen sind:
ln der Rahmenerzählsituation, wie im übrigen in der konvivialen Konversation sowie der Dialoglitera¬
tur, boten sich den Gebildeten der Zeit literarische Diskurstypen, mit deren Hilfe sich eine als pro¬
blematisch erfahrene Wirklichkeit zum Gegenstand der Besprechung mit literarischen Mitteln machen
ließ.33 34
Der Dialog bot aber auch die Möglichkeit, einen Freiraum zu konstituieren, in dem ein
Gespräch zwischen dem Inhaber der Macht und den Intellektuellen möglich schien. Enter
der Annahme, dass man im intellektuellen Feld gleichberechtigt ist, konnte über neue Er¬
fahrungen, die unter Umständen auch im machtpolitischen Bereich lagen, diskutiert wer¬
den. Budé und seine Gespräche mit François 1er in De Philologia sind hier ein prägnantes
Beispiel. Das Heptaméron hat Teil an einem solchen Diskurs der dialogischen Konfrontati¬
on. Unter fiktionalen Bedingungen wird auch hier eine Freiheit gespielt, die es im Raum
der politischen Macht nicht gibt. Während Bude sich in der Fiktion selbst zum gleichbe¬
rechtigten Gesprächspartner des Königs stilisiert, verzichtet Marguerite de Navarre in
umgekehrter Weise freiwillig auf einen Diskurs der Macht. '6 Auch Michel jeanneret hebt
in seiner Analyse der narrativen Strukturen der Rahmenhandlung das Fehlen jedes autori¬
tären Diskurses hervor: „autonomous subjects, capable of judgment, take center stage,
and, in the polyphony of their discordant voices, destroy the principle of authority.“1
33 „Parlamente, qui estoit femme de Hircan, laquelle n’estoit jamays oisifve ne melencolicque, aiant deman¬
dé congé à son maty de parler, dist“ (S. 14f.).
34 Wehle: Novellen erzählen (wie Anm. 14), S. 173.
35 In De Philologia konzipiert Budé ein fiktives Gespräch zwischen ihm selbst und François Ier. Obwohl dem
Herrscher der ihm gebührende Respekt entgegengebracht wird, inszeniert Budé doch ein gleichberechtig¬
tes Gespräch unter Intellektuellen, in dessen Verlauf die Gesprächssituation immer wieder als solche in¬
szeniert wird. Guliemi Budaei: Omnia Opera, 2 Bde., Basel 1557, Photomechanischer Nachdruck: West-
mead Farnborough, Hants, Bd. 1.
36 Vgl. in diesem Zusammenhang Michel Foucaults zentrale Überlegungen in E’ordre du discours, Paris 1971.
Hier heißt es: „je suppose que dans toute société la production du discours est à la fois contrôlée, sé¬
lectionnée, organisée et redistribuée par un certain nombre de procédures qui ont pour rôle d’en conjurer
les pouvoirs et les dangers, d’en maîtriser l’événement aléatoire, d’en esquiver la lourde, la redoutable ma¬
térialité“ (S. 10).
1 Jeanneret, Michel: „Modular Narrative and the Crisis of Interpretation“, in: John D. Lyons / Mary B.
McKinley (Hg.): Critical l'aies. Nein Studies of the Heptameron and Early Modern Culture, Philadelphia 1993,
S. 85-103, hier S. 98. jeanneret geht allerdings davon aus, dass sich die freie Rede der Gesprächspartner
gleichsam gegen die Intention der Autorin verselbständigt habe: „The exemplary model, however, does
not work. The whole interest of the exchanges between storytellers is in the way the system fails, in the
gap between the theoretical project, which supposes the possibility of a universal discourse on mankind
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